Wenn’s wie Ficke aussieht und sich wie Ficke anfühlt dann ist es manchmal auch nur Ficke

Ich bin meinen Eltern sehr dankbar dafür, dass sie mir vorgelebt haben, sich nicht an Kleinigkeiten aufzuhängen. Wenn dich etwas stört verändere es. Wenn du es nicht ändern kannst dann lass es los. Das hat immer wunderbar funktioniert. Ich konnte allem etwas Positives abgewinnen, ich habe immer gesagt „Ja, das ist kacke ABER ich muss durchhalten. Ja das ist unfair ABER es wird schon wieder besser.“ Hat mir zumindest auch in vielen Lebenslagen den Hintern gerettet. Was soll man seine wertvolle und vor allem kurze Zeit auf diesem Planeten auch damit vergeuden, sich über Dinge aufzuregen, die man nicht ändern kann?
Zum Problem wurde diese Einstellung jedoch, als ich ganz unbewusst anfing, diese Lebenseinstellung wie eine Schlinge um meinen Hals zu legen und sie immer enger zog. Wer ist schon gerne schlecht drauf und gilt als negativer Mensch? Ich jedenfalls nicht. Ich war ja auch immer die, die die anderen aufgebaut hat, ihnen Mut machen konnte. Vorgelebt hat, was mit einer positiven Einstellung alles machbar ist. Wie wenig schlechte Momente es im Leben gibt, wenn man sie einfach ignoriert! Herrlich! Da ich diese Rechnung jedoch machte, ohne zu beachten, dass ich keinen emotionalen Schutzschild trage, der WIRKLICH alle negativen Regungen in mir eliminiert, sondern ich unbewusst anfing, alle für mich „negativen“ Emotionen in eine Truhe im hintersten Eckchen meiner Selbst zu stopfen, brach es irgendwann aus mir heraus. Buchstäblich. Wenn ich schlechte Tage habe, wenn ich mit meinem Drachen kämpfe oder nur diskutiere wird mir schlecht. Beziehungsweise kotzübel. Meistens muss ich mich wirklich übergeben. Nicht selbstinduziert (also Finger in den Hals), sondern einfach so, ohne große Vorankündigung. Im Strahl.
Mein Unterbewusstsein hat einen Weg gefunden, mir mitzuteilen, dass ich nicht genug auf mich aufpasse. Ich arbeite zu viel – mir wird schlecht. Ich schlafe nicht genug und versuche todesmüde trotzdem etwas zu schaffen – Kotzerei. Ich nehme ein Gefühl, eine Emotion, nicht wahr oder versuche sie zu verdrängen – Übelkeit bis zum Erbrechen.
Mein Weg bis zur Akzeptanz dieses Symptoms, dieses Warnsignals, war lang und steinig. Auch nach fünf Jahren fällt es mir oft schwer, es hinzunehmen. Schon während des stationären Aufenthalts haben viele Therapeuten versucht mir diese extreme Reaktion auf Stress oder seelische Dysbalance als Geschenk zu vermitteln. Sie haben mir gesagt, dass ich froh sein kann, dass ich dieses hauseigene Alarmsystem habe. In guten Zeiten kann ich es so sehen. Wenn ich mit mir selber klar komme, der Drache zu meinen Füßen liegt und schläft, dann kann ich das „Geschenk“ annehmen. Kann erhobenen Hauptes sagen, dass es zu mir und meinem Leben gehört. Aber wenn es mir schlecht geht… Wenn ich aufwache geht der erste Gang ins Bad. Ich habe keinen Hunger, nehme meistens in kurzer Zeit mehrere Kilos ab. Wenn ich nicht sofort darauf komme, was mit gerade fehlt, welches Bedürfnis vernachlässigt wird, dann hält das Erbrechen an. So lange wie es eben dauert, dass ich den quersitzenden Pups des Drachens erkenne und ihn an der richtigen Stelle entweichen lasse. Natürlich wird man mit der Zeit besser darin, herauszufiltern, wieso einem schlecht ist. Nichtsdestotrotz ist die Übelkeit mein ständiger Begleiter. In schlechten Zeiten wähle ich mein Essen danach aus, ob es auch leicht wieder rausgeht – und das nicht auf normalem Weg. Ich esse und trinke dann nichts, was ich mir nicht verderben lassen möchte. Meine Wege führen mich dann immer von Toilette zu Toilette. Eine Kotztüte ist immer dabei. Ihr merkt schon, dieses „Geschenk“ ist aus sicherer Entfernung betrachtet ein respektabler Begleiter. Aber selbst haben möchte man ihn eher nicht. Und wenn du ihn hast, dann möchtest du vieles aber eines ganz sicher nicht: Hören, dass es total super, ja sogar beeindruckend, ist, dass du diese Symptomatik hast. Ich möchte dann auch nicht hören, dass ich Glück habe, so eine Alarmanlage zu besitzen. Denn von Glück kann ich nicht sprechen, wenn ich den dritten Tag in Folge nur von Sofa zu Kloschüssel laufe und mir die Seele aus dem Leib reihere. Dass diese Kommentare nicht böse gemeint sind, weiß ich. Wirklich. Und ich weiß auch, dass besonders Nichtbetroffene oft aus Ratlosigkeit zu einer Floskel greifen, um ihr Mitgefühl auszudrücken. Das ist in etwa so wie das „wird schon wieder“, wenn du jemandem erzählst, dass du tottraurig und verzweifelt bist. Man möchte den anderen aufbauen, ihm Hoffnung geben. Ihm Mut zu sprechen und ihm sagen, dass alles wieder besser wird. Das ist wirklich kein Vorwurf.
Aber ich für mich habe gelernt, dass ich vor Kopf oben Halten und nach vorne Gucken etwas anderes brauche. Nämlich das Beschissene auch mal als beschissen zu bezeichnen. Denn beschissene Dinge passieren im Leben. Und ich habe sie jahrelang als Nichtigkeiten abgetan, damit sie meine vorgespielte Fröhlichkeit nicht blockieren. Und deswegen stehen mein Bauch und ich jetzt regelmäßig auf Kriegsfuß miteinander.
Dank einem der wundervollsten Menschen dieses Planeten habe ich ein Wort, welches ich gerne auf diesem Blog etablieren möchte: Ficke.
Ficke bezeichnet für mich alles, was nicht zu ändern ist. Was einfach doof ist. Was mich aufregt, mich bewegt, mir Übelkeit verursacht und ich es nicht einfach ändern kann. Ich muss es dann akzeptieren und oder loslassen. Aber vorher möchte ich einfach mal sagen können, dass es ficke ist. Ficke, dass Menschen unterschiedlich gut auf Stress und Probleme reagieren. Ficke, dass gerade ICH jetzt damit zu kämpfen habe. Ficke ist auch, dass ich zwar niemand anderem wünsche, einen unsichtbaren Terroristenmitbewohner zu haben, ihn jedoch selbst auch nicht haben will. Ficke ist, wenn jemand wie ein Weltmeister gegen den Krebs kämpft und dann doch verliert. Ficke ist, dass das Leben kein Wunschkonzert ist und beschissene Dinge passieren. Meistens gerade den Menschen, die es in unseren Augen nicht verdient haben.
Mir ist bewusst, dass ich mich nicht darin verlieren darf, dass beschissene Dinge passieren und man sie nicht beeinflussen kann. Und ich sehe meine Art der Problembehandlung auch nicht als absolut an. Ich verstehe und unterstütze jeden, der in allen negativen Ereignissen auch etwas Positives sehen kann. Ich muss für mich nur ab und zu stehen bleiben, auf den riesigen Kackhaufen schauen und sagen „So eine Ficke!“. Wenn dann auch noch ein geliebter Mensch daneben steht, meine Hand nimmt und sagt „stimmt, Ficke!“ geht es mir ein Stück besser. Ich atme durch, werfe dem beschissenen Fickhaufen einen letzten Blick zu und richte meine Augen wieder nach vorne. Mit mehr Akzeptanz, mit mehr Mut. Aber nicht, ohne Ficke auch als Ficke zu bezeichnen. Denn jede Emotion hat ihre Berechtigung. Auch Ärger und Enttäuschung.

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