„Traurig ist es, wenn in einem Leben die Seele eher ermüdet, als der Leib ermüdet ist.“ – Marc Aurel

Ich dachte immer ich sei ein Stadtkind. Brauche den Trubel, die hupenden Autos und die sich ständig bewegende, murmelnde Menschenmasse. Früher brauchte ich das auch. Ich brauchte um mich herum so viel Lärm wie möglich. Deswegen habe ich auch so gerne in ausgebuchten Restaurants und gut besuchten Bars gearbeitet. Ständiger Kontakt mit Menschen, viel Plackerei, wenig Schlaf, gerne viel Alkohol. Denn umso lauter es um mich herum ist, desto weniger laut höre ich die Stimme in mir drin. Die Stimme, die nicht mit Worten zu mir spricht sondern mit Gefühlen. Mit Emotionen, mit Wärme und Kälte. Die mein Herz beschleunigt oder es aussetzen lässt. Es ist keine manipulierende Säuselstimme, auch kein brummender Bassbefehl. Es ist die schwarze Masse der Depression, die mein Herz umklammert und mich Dinge fühlen lässt, die mein Verstand nicht einzuordnen versteht. Lärm von außen übertönt sie, lenkt mich ab, macht mich frei. Zumindest fühlt es sich kurzzeitig so an. Eine Stadt wie Bonn ist tagsüber zwar laut und unruhig, nachts jedoch kehrt Ruhe ein. Ab 23 Uhr unter der Woche werden die Autos weniger, die Bars und Restaurants leeren sich, besonders im Winter sind nächtliche Begegnungen vor allem in Seitenstraßen sehr selten. Mittlerweile liebe ich diese Stille. Am schönsten ist es zwischen zwei und vier Uhr nachts. Kurz bevor der morgendliche Verkehr beginnt ist da diese Stunde Null, in der man alles sein kann. In der jeder Gedanke seinen Platz findet. Früher habe ich diese Stille nicht ausgehalten. Wusste ich ja auch noch nichts von meinem Mitbewohner. Ich spürte nur dieses eklige, undefinierbare Schwarz, das sich an meinem Herzen festgebissen hatte und mich von Stunde zu Stunde leerer saugte. Also wurde gearbeitet bis zum Umfallen, gefeiert bis zum Blackout. Wenn nach der Zwölf-Stunden Schicht auf der Arbeit noch Energie da war dann fuhr man um zwei Uhr nachts noch zu McFit. Ein Hoch auf die 24-Stunden Öffnungszeiten. Alles wurde lieber gemacht als die Ruhe zuzulassen, die blitzschnell in ein betäubendes Meer aus Angst, nicht nachvollziehbaren Gedanken und Selbsthass umschlug. Aber als alle Ablenkung nichts brachte, als der Brechreiz so schlimm wurde, dass ich vor körperlicher Erschöpfung nicht mehr in der Lage war, zu arbeiten oder vor die Tür zu gehen, da wurde ich zum Schweigen und Zuhören gezwungen. Trotz starrer Angst musste ich meine Hände vom Gesicht lösen und den Drachen anschauen. Ich musste nicht nur akzeptieren, dass er existiert sondern auch versuchen sein Schreien und Feuerspucken zu verstehen. Entschuldigung? Könnten Sie das bitte wiederholen? ROAH RAWR-RHOAAWWW. Aha, Scheidung meiner Eltern sagen Sie, Herr Drache. Das hab ich so noch nie gesehen, ich dachte immer da steh ich drüber. Was? Mobbing auf der Gesamtschule? Klar, war keine coole Zeit, aber hab es doch überlebt? Ganz so romantisch wie in einem Disney-Film ist es dann zwar nicht, der Dialog mit dem Drachen besteht zu 90% aus Schluchzen und Erbrechen, aber das sind so Dinge, die ich seit dem Öffnen der Unangenehme-Sachen-Truhe aufarbeite. Mich belasten diese Erlebnisse zwar nicht 24 / 7, aber ab und zu sticht es und ich muss daran denken, dass mich diese Dinge schon mal sehr traurig gemacht haben – und das auch okay so ist – statt dass ich so tue als würde mich das nicht die Bohne interessieren. Ich habe nie ein großes Trauma erlitten und dieses nicht verarbeitet. Bei mir waren es viele eher semi-schlimme Dinge, die ich als unwichtig und weniger schlimm als andere Schicksalsschläge gesehen habe. Aber wie sagt man so schön: Kleinvieh macht auch Mist. Und bei mir ist dieser Mist emotionaler Ballast, der mich heutzutage immer wieder einholt. In der Klinik und der ambulanten Therapie habe ich viele dieser kleinen Misthaufen schon inspiziert. Habe sie analysiert, mir dabei helfen lassen, Gefühle und Gedanken der jeweiligen Momente meines Lebens in Erinnerung zu rufen und zu akzeptieren und sie mir zuzugestehen. Seitdem ist der Drache schon wesentlich leiser geworden. Er fährt nicht gleich aus der Haut, wenn er sich überhört oder missverstanden fühlt. Er tritt nach mir und zwickt mich, versengt mit einem kurzen Schnauben auch schon mal ein paar Haare. Aber er rastet nicht direkt aus wie Andreas bei Frauentausch. Ich hatte wirklich gute fünf Jahre. Natürlich hat jeder sein Päckchen zu tragen und mein Mitbewohner / meine Erkrankung machen das Leben nicht leichter, aber ich hatte wieder zu mir selbst gefunden. Die Orientierungslosigkeit, die mich nach der Erkenntnis des jahrelangen Selbstbetrugs wie eine Klitschko-Faust zu Boden riss war dem zarten Keimling der Selbstakzeptanz gewichen. Ich stellte nicht mehr jede Entscheidung in Frage. Zerdachte nicht jede Emotion, ob sie nun eine Erinnerung früherer Bedürfnisse oder gegenwartsbestimmte Neuerscheinung war. Ich vertraute wieder meinem Instinkt, fand mich selbst gar nicht mehr so schäbig und unliebbar wie noch vor ein paar Jahren. Der Knoten in der Brust hatte sich etwas gelöst, der Drang zum Immer-Besser-Werden hatte nachgelassen. Fehler konnten gemacht werden ohne danach Spiegel vermeiden zu müssen, weil einen das eigene Spiegelbild so sehr anwidert. Und letzten November dann der friendly reminder meiner Depression, dass sie mich immer und überall bekommen wird, wann immer sie will. Von jetzt auf gleich richtete sich der tobende Feind in mir auf und spuckte seinen mit Wut und Trauer getränkten Selbsthass in mein Bewusstsein. Der meine Seele zersetzende Schleim kroch wie ein Wurm in mir herum und infizierte mein Herz mit Unsicherheit. Vieles, was ich doch schon vor langer Zeit unter Schweiß und Tränen in Klinikräumen und Stadtpraxen mühsam aufgearbeitet hatte wurde wieder zum Problem. Ist immer noch ein Problem. Zuerst kam mir das Wort Rückfall in den Sinn. Wie bei einem Alkoholiker. Aber ich bin nirgendwo hin zurückgefallen. Bin nicht an einen Tag vor dem 03.02.2018 zurückgereist. Das ist der verkackte Verlauf der Krankheit, dass dieses beschissene schwarze Monster hinterlistig aus den Tiefen deiner Selbst herauskriecht und dich lähmt. Dich mit Selbstzweifeln übergießt und anzündet. Mein Verstand erinnert sich natürlich an die fünf Jahre zuvor. Erinnert sich, dass es vor ein paar Wochen kein Problem war, sich selbst gut zu finden. Weiß auch rational, dass ich kein anderer Mensch über Nacht geworden bin, den niemand liebt. Aber das ist das Problem mit der Stimme, die Gefühle statt Worte benutzt. Sie spricht zu deinem Herz. Wie ein Ohrwurm eines 90er Jahre Popsongs frisst er sich in dich hinein und wird immer wieder abgespielt. Und ich muss ja mittlerweile zuhören. Ich muss mir einen ruhigen Ort suchen, um die Stimme zu verstehen, um zu hören was ihr fehlt oder was sie braucht. Oft will sie heute etwas, was sie gestern nicht leiden konnte. Ich bin unsicher, ob ich sie richtig verstehe und frage deswegen viele, viele Male nach, bevor ich Entscheidungen nach außen trage und aktiv handle. Das ist nicht nur zeitaufwendig sondern auch sehr anstrengend. Denn jeder Alltagslärm, jede Unterhaltung, jede Interaktion mit Dingen oder Personen, die nicht mein Drache sind, kostet mich Kraft, das Kreischen der Flammen in meinem Kopf und meinem Herzen auszublenden. Das macht mich müde. So verdammt müde. Aber das ist momentan mein Leben. Und zurzeit bin ich einfach nur alltagslebensmüde. Bitte nicht falsch verstehen! Ich bin froh, auf dieser Welt zu sein. Auch wenn mein Drache laut und gemein sein kann, weiß ich, wofür ich lebe und würde dieses Leben nicht freiwillig aufgeben. Es gestaltet sich dennoch enorm schwierig, sich zurückzuziehen und sich Zeit für den Drachen zu nehmen und das richtige Maß an sozialen Kontakten zu finden. Auch Verpflichtungen wie Arbeit, Haushalt und Uni-Seminare können heute gemeistert und morgen als unüberquerbares Hindernis gesehen werden. Ich kann mich jetzt auf eine morgige Verabredungen freuen, die mich heute Abend so sehr stresst, dass ich die ganze Nacht über der Schüssel hänge. Morgen früh sieht das vielleicht wieder anders aus. Ich weiß nicht, ob ich in so einem Fall die Stimme nicht richtig verstanden habe oder ob sie ihre Meinung geändert hat. Aber ich muss reagieren. Ich muss mich nach ihr richten. Denn sie weiß im Endeffekt, was tief in mir drin gehört werden will. Ich verstehe sie nur sehr schlecht zurzeit.

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