Von schlechten Tagen und guten Stunden

Wenn es mir längere Zeit gut geht, der Drache seine Schnauze hält und ich nicht jeden Tag in einem Meer aus Schweiß und Angst wach werde vergesse ich leicht, wie sich Schlechtfühlen anfühlt. Ich denke dann nicht ständig „vor zwei Wochen ging es mir total mies, da muss ich jeden guten Tag jetzt voll ausschöpfen und zu schätzen wissen“. Ich verdränge sehr gerne die negativen Vibes (ich berichtete) und empfinde meine Freude als Normalzustand. Dagegen ist auch nichts einzuwenden, wo kämen wir denn hin, wenn wir uns während des Gutfühlens ständig an die schlimmen Dinge erinnern würden? Das ist wie beim Schnupfen: Wir riechen, wir schmecken, das nehmen wir als gegeben hin. Und dann geht erst das linke Nasenloch zu, das rechte zieht nach zwei Tagen nach. Alles schmeckt nach diesem faden Nichts, wir schlagen uns die Nächte mit Naseputzen und Halsschmerzen um die Ohren. Und das einzige, was wir uns wünschen, ist eine freie Nase zu haben. Wir sehnen uns nach der gefühlt eine Ewigkeit zurückliegenden Freiheit unseres Riechorgans. Eine Zeit, in der wir kein Schmirgelpapier im Rachen hatten. In der Essen Freude bereitet, weil Banane und Tomate nach Banane und Tomate schmeckten und nicht beides nach nassem Küchenpapier. Nach schier endlosen Tagen der Trauer und drei Tuben Bepanthen, um die Spuren der Taschentücher an Nase und Lippen zu beseitigen, dann die Erlösung: Geschmackssinn und Freiheit kehren zurück. Fast andächtig beobachten wir unseren Körper, wie er nach viel zu langer Zeit wieder den Zustand „normal“ erlangt. Und in dieser Zeit schwören wir uns, jeden Bissen, jeden Genuss, jede Nacht ohne Schnappatmung zu preisen. Aber nach Tag Zwei ist es uns schon egal. Wir vergessen, wie furchtbar die Rüsselseuche war, wir denken nicht mehr an die bittere Erkenntnis, dass Rosenkohl und Kinder Bueno gleich schmeckten.
Jetzt ist die Depression eine andere Kiste als eine Erkältung. Sie klingt nicht so schnell wieder ab, sie lässt sich auch nicht mit Tee und einer Woche Eukalyptusbonbons erträglicher machen. Aber das Gefühl, dass ich beim Schnupfen habe, ist ein ähnliches. Ich befinde mich in einer depressiven Episode und wünsche mir nichts sehnlicher, als endlich wieder alle Farben und Geschmacksrichtungen des Lebens fühlen zu können. Ich vermisse mein eigenes, ehrliches Lachen, das aus dem Herzen kommt. Ich schwöre dann bei Gott und dem heiligen Spaghettimonster jede Sekunde, die nicht von meinem Drachen dominiert wird, wie einen Diamanten zu hüten und zu preisen. Alles andere scheint banal, unwichtig. Mein Alltag richtet sich danach, bis zu den besseren Zeiten durchzuhalten. Und irgendwann kommt dieser eine Tag, am dem sich alles wieder normaler anfühlt. Der Tag, an dem der Druck endlich etwas nachlässt und die auffressende Dunkelheit nicht jeden Atemzug bestimmt. Und Schwups, verschwunden ist die Demut, die Dankbarkeit. Wieso sollte ich mich auch für meinen Normalszustand bedanken? Gar freuen über etwas, das ich als gegeben ansehe? Aber nur schlechte Zeiten ermöglichen die guten, sagten schlaue Leute mal zu mir. Ok, es muss niemandem so furchtbar schlecht gehen wie es mir manchmal geht – auch kleinere Wehwehchen machen einem bewusst, was das Zusammenspiel von guten und schlechten Zeiten bedeutet. Aber wir können natürlich nur messen, was sich für uns als gut und schlecht anfühlt, wenn wir beide Seiten der Medaille kennen. Ich habe zu Beginn meiner Erkrankung das größte Problem damit gehabt, zu sehen, dass es in schlechten Zeiten auch gute Momente gibt. Mittlerweile habe ich zwar nicht mehr das Problem diese guten Momente zu erkennen, ich bekomme danach aber recht schnell ein schlechtes Gewissen, dass es mir „zu gut“ geht (wenn auch nur für einen Augenblick), dafür dass ich eigentlich in einer schweren Phase stecke. Aber krank zu sein bedeutet nicht, jeden Tag sein Lächeln im Eisfach zu lassen. An Depressionen zu leiden bedeutet nicht, dass man nicht mehr herzhaft lachen darf. Oder dass die Probleme nicht mal Sendepause haben. Bei meiner ersten Therapeutin damals wurde mir schnell bewusst, dass ich mein emotionales Spektrum nicht in Zeitabschnitte einteilen kann. Ich dachte vorher, dass es mir eine Zeit lang schlecht geht (sagen wir sechs Wochen) und dann geht es mir wieder acht Wochen gut. Leider läuft es nicht so. Am schönsten ist es, wenn es dir immer ganz gut geht und du zwischendurch mal einen Durchhänger hast. Das geht fast jedem so würde ich behaupten. Und wenn es in diese Richtung funktioniert, wieso verbiete ich mir in schlechten Zeiten die seltenen guten Momente? Weil jemand anderes denken könnte, ich simuliere nur. Die Angst vor dem nicht glaubwürdig krank sein ist sehr präsent. Weil man mir den Drachenkampf nicht ansieht. Man sieht mein Lachen und geht davon aus, dass es mir gut geht. Weil Lächeln oder Lachen das signalisiert. In jeder Gesellschaft ist das ein Zeichen von Wohlfühlen. Und ich möchte das auch zeigen können, wenn es mir im Großen und Ganzen eher schlecht geht. Denn auch in einer depressiven Episode, in schlechten Zeiten, gibt es Momente, in denen mein Herz vor Freude glüht und nicht vor Schmerz. Auch wenn in mir fast alles schwarz und dunkel ist kann ich über einen Witz lachen und ich möchte mir das Gefühl von Sonne auf der Haut nicht madig machen lassen, weil ich momentan ein Depri bin und deswegen IMMER unglücklich sein muss.
Die tolle Frau, die mir damals die Klinik vorschlug, hat mir einen Zettel geschrieben. Auf diesem vermerkte sie den Satz „Es gibt auch diese guten Tage“. In meiner jugendlichen Arroganz schnaubte ich damals und sagte schnippisch „Klar, ganze TAGE. Als ob.“ Und sie schrieb dazu „oder diese guten Stunden“ und als sie meine ungläubige Visage sah kam dann der letzte Punkt dazu: oder gute Minuten. Denn für mich war es unvorstellbar, dass ich mich jemals für längere Zeit besser fühlen könnte. Dass es wirklich 24 Stunden meines Lebens geben sollte, in denen ich nicht von Selbsthass und Verzweiflung zerfressen werde. Und auch volle 60 Minuten schienen mir doch sehr weit her geholt. Aber Minuten.. Das konnte ich mir mit viel Fantasie vorstellen. 60 Sekunden Freude empfinden schien nicht völlig absurd. Und so hing dieser Zettel die nächsten Jahre immer gegenüber meines Bettes. Damit ich jeden Morgen daran erinnert wurde, dass es auch gute Tage, Stunden, Minuten gibt. Und sie nicht weniger wert sind, als die guten Minuten, die mehrere Tage anhalten. Gute Momente sind gute Momente und sollten – nein, MÜSSEN – als solche registriert und wenn möglich auch genossen werden. Lachen lohnt sich! Immer. Denn wir dürfen nicht vergessen, dass auch wieder bekackte Momente kommen. Beim einen schneller oder häufiger als beim anderen. Aber sie kommen wieder. Und dann wünschen wir uns nichts mehr als die guten Zeiten zurück.

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