In der Klinik habe ich neben Einzelsitzungen und Gruppentherapie auch wöchentliche
Unterhaltungen mit meiner Bezugspflegeperson gehabt. Jeder Patient bekam ein Mitglied des Pflegepersonals als zusätzliche Stütze an die Seite gestellt. Einmal in der Woche, 30 Minuten, Quatschen
wie es mit den Therapien, den Ärzten und den Stationsgenossen so läuft. Ein Gesprächspartner für die Probleme Zwei bis Fünf auf einer Skala von eins bis zehn sozusagen. In der zweiten oder
dritten Sitzung fragte mich meine Bezugspflege, was ich denn für Möglichkeiten kenne, mir selbst etwas Gutes zu tun. Tja.. Arbeiten, sagte ich. Aber das mochte ich ja anscheinend doch nicht,
immerhin hatte es mich krank gemacht, sonst wär ich nicht in der Klapse. Und ich mochte es, Zeit mit meinen Freunden zu verbringen. Sie lachte. Das seien aber doch keine Methoden, um mich nur MIR
zuzuwenden. Ich überlegte weiter. Lesen? Ja, wir kommen der Sache näher. Mögen Sie Baden? Mhh..ja. Ab und zu ein Bad nehmen ist schon entspannend. Zumindest diese zwölf Minuten zwischen der
halbstündigen Gewöhnung an das brühendheiße Magma (Bein für Bein wird gnadenlos der Hitze ausgesetzt, kritisch wird’s an Po und Bauch. Jeder Zentimeter braucht seine Zeit. Wenn der Wasserpegel an
der Brust ankommt hat man es geschafft) und der enttäuschten Auferstehung, weil zwölf Minuten einfach nackt herumsitzen schon langweilig sein können. Die Essenz dieser netten Unterhaltung in dem
sterilen Behandlungsraum: Meine Wochenaufgabe bestand aus einem bewussten Bad. Ohne auf die Uhr zu schauen sollte ich die Ruhe finden, das Herumsitzen in dem komplett gekachelten, einem
Serienkillertatort zum Verwechseln ähnlichen Badezimmer zu genießen. Pah, easy peasy lemon squeezy! Nicht. Bis zum letzten Abend schob ich diese Aufgabe vor mir her, weil ich ganz genau wusste,
mein Drache würde spüren, dass es um mich herum still und rein sein würde. Er lag auf der Lauer, wartete auf diese Chance, um mich daran zu erinnern wie laut sein Brüllen werden kann. Wie schnell
die Stille um mich herum zu tosendem, hämischem Gelächter in meinem Kopf werden würde. Und so zwang ich mich am Abend vor meinem nächsten Gespräch, mich im Badewannenbad einzuschließen, und das
Wasser einzulassen. Am Ende saß ich genau zwei Minuten darin. Ich bitte um Entschuldigung für diese enorme Wasserverschwendung. Hätte ich gewusst, dass ich an dieser simplen Aufgabe scheitere,
hätte ich… Hättehätte Fahrradkette. Niedergeschlagen erzählte ich am folgenden Tag von meinem Misserfolg. Aber, oh Wunder, es war gar nicht so schlimm. Denn es ist ja auch gut zu wissen, was man
NICHT gebrauchen kann. Dass der Krach in meinem Kopf, meinem Herz, nicht ewig so laut sein würde wurde mir versichert. Aber vielleicht sei es ja für mich auch kein Bad, was mir gut tut. Ob ich
denn in der Woche etwas anderes für mich entdeckt hätte, fragte sie. Wir kickern jeden Abend, sagte ich. Kickern? Tischfußball. Und dabei schalten Sie ab? Total. Wir sind auch alle ziemlich gut,
da konzentriert man sich. Man will ja gewinnen. Ich grinse über beide Ohren. Auch jetzt, beim Tippen. Was eine geile Zeit. Jeden Abend nach dem Essen und der obligatorischen Kippe danach runter
an den Kickertisch, meistens die gleichen vier. Und dann eine Stunde Schweiß, Beleidigungen und Freudentänze. Und immer eine Revanche.
Das klingt doch super, sagt sie. Da tun Sie sich jeden Abend doch wirklich etwas Gutes.
Es muss ja nicht direkt das halbstündige Bad sein, Sie wissen am besten, was Ihnen gut tut. Nein, sage ich. Ich weiß gar nichts mehr über mich. Aber Sie SPÜREN doch etwas. Fühlen Sie sich nach
dem Kickern gut? Ja. Erschöpft, aber sehr, sehr gut. Sogar das Verlieren fällt nicht schwer. Fantastisch! Darum geht es: Tun Sie Dinge, bei denen Sie DIESES Gefühl haben. Egal was das ist.
Probieren Sie sich aus. Seien Sie offen.
In den nächsten Tagen probierte ich. Ich strickte, Zimmer 22 hatte die beste Strickerin
der Klinik zu bieten. Sie zeigte es mir, Mamas Unterricht war einige Jahre her. Aber ich bin zu nervös. Ich mag diese Abläufe der Tätigkeit an sich nicht. Also nächster Versuch: Malen. Mit Musik
auf den Ohren wird jedes Mandala zu meinem Seelenspiegel. Auch eigene Kunstwerke sind entstanden. Ich bin definitiv mit Instrumenten begabter als mit Pinsel und Kreide. Aber darum geht es nicht.
Ich merke, wie meine Gedanken im Kopf wie flauschige Wolken vorbeiziehen. Paul Kalkbrenners gesanglose Stücke der Berlin Calling Platte helfen mir dabei, sie nicht krampfhaft auseinanderpflücken
zu wollen. Ich kann sie beobachten, hier mal eine Schäfchenwolke näher betrachten, da mal den Gedanken folgen, wie sie ineinander übergehen, aneinander vorbeidrängeln. Ein tolles
Gefühl.
Der nächste Tag ist ein Mittwoch. Also Morgensport. Um 7:30 ist Antritt zum gemeinsamen
Morgenspaziergang, man kann aber auch joggen. Nicht. Als absoluter Morgenmuffel fällt schon das Murmeln eines semifreundlichen „Morgen“ enorm schwer, da sind Erwartungen darüber hinaus wirklich
unangebracht. Bisher hatte ich mich bei diesem Waldspaziergang von den Gesprächen der anderen berieseln lassen. An diesem Morgen war der iPod mit dabei. Wieder Kalkbrenner. Mein Wunsch zurück ins
warme Bett zu kriechen war so groß, dass mein Bauch mir einen Alarm gab. Heh, du bist hundemüde, wieso zur Hölle sind wir draußen? Ende Oktober?! Um halb 8?! Ich glaub mir wird schlecht… Ich
aktiviere die zufällige Wiedergabe meines musikalischen Begleiters. Der Soundtrack des Films „Madagaskar 2“ ertönt. Hans Zimmers „Alex On The Spot“ bringt meinen Kreislauf in Schwung. Ich liebe
diesen Beat. Das nächste Lied ist von Robyn. Eine Powerfrau. Ich merke, dass ich am Ende des Songs schon ein Drittel des Weges geschafft hab. Ein gutes Gefühl! Auch das Spazieren an sich macht
Spaß, ich bin körperlicher Betätigung nicht abgeneigt. Als wir wieder auf Station sind schreibe ich in mein Kliniktagebuch:
– Kickern
– Musik
– Mandalas ausmalen
– Spazieren gehen
Ich bin ein Bisschen stolz. Schon vier Dinge, von denen ich weiß, dass sie mir gut tun.
In der Bewegungstherapie haben wir oft Dinge gemeinsam ausprobiert, die uns gut tun. Eines Tages, wir stehen im Kreis und warten auf Anregungen der Therapeutin für die heutige Stunde, summt die
große Box in der Ecke. Der CD-Player wird angeworfen und der mir altbekannte E-Gitarrensound von „Lose Yourself“ erreicht meine Ohren. Oh Yes! „Tanzen!“ ruft sie uns zu. „Bewegen Sie sich einfach
zur Musik wie es sich gut anfühlt.“ Ich grinse meine Strickkönigin an, wir wissen, wir sind auf der gleichen Musikwelle. (Nur Udo Lindenberg, den muss sie für mich mit lieben.) Wir springen los.
Formen erst stumm die wenigen bekannten Songtextfetzen und gröhlen beim ersten Refrain schließlich mit. You better lose yourself in the music- The moment you own it, you better
never let it go! Mein Herz erlebt ein Feuerwerk! Wie lange habe ich
mich schon nicht mehr so bewusst zu Musik bewegt. Dabei tanze ich für mein Leben gern. Die nächsten Lieder sind ein Mix aus Pop Klassikern und melodischen Rhythmen, die mal mehr, mal weniger
wirkliche Tanzskills fordern. Ich liebe diese Stunde! Zurück im Zimmer kritzel ich schnell ins Tagebuch: TANZEN.
Seitdem sind stetig Dinge auf der Liste ergänzt worden. Und zwar mit meditativen Dingen
wie der Progressiven Muskelrelaxation und auch mit banal erscheinenden Kleinigkeiten. Barfuß laufen zum Beispiel. Auf warmen Asphalt laufen, Gras zwischen den Füßen spüren, das macht mich
glücklich. Oder Sommerregen auf der Haut, der Geruch von nassem Betonplatten. Also versuche ich mir diese Dinge (in der entsprechenden Jahreszeit) zu ermöglichen.
Manchmal verschwinden auch Dinge von der Liste. Ich kicker immernoch sehr gerne aber es
hat mittlerweile nicht mehr die Wirkung auf mich und meine Gedanken, wie es das in der Klinik tat. Aber was solls, dafür entdecke ich von Zeit zu Zeit neue Dinge für mich. Viele Menschen machen
Yoga, gehen Joggen, Masturbieren, malen Leinwände voll, schreiben Songs, sortieren Vinylplatten. Es weiß niemand besser, was einem selbst gut tut als das eigene Herz. Auch wenn es für andere
nicht hilfreich ist. Ich habe bis heute keine Stricknadeln mehr in der Hand gehabt. So what. Dann mache ich eben etwas anderes. Manchmal tut es mir gut, einfach nur auf dem Boden zu liegen und
mir vorzustellen, ich läge in der Klinik auf dem Teppich im Gruppentherapieraum. Manchmal beengt mich diese Vorstellung aber auch. Keine Methode, keine Sache MUSS immer das Allheilmittel sein.
Manchmal tut dir etwas gut, was vor ein paar Jahren noch langweilig oder unangenehm war. Als bei mir gar nichts mehr ging vor einiger Zeit, als kein Paul Kalkbrenner und kein Gedankenexperiment
mehr half, bin ich barfuß in den strömenden Regen gelaufen, habe mich mitten auf den Feldweg gestellt und getanzt. Ich brauchte eine Kombination aus meinen Seelenpflastern. Und ich habe eine
Stunde dort gestanden, getanzt und gelacht und geweint und den Regen auf der Haut gespürt und hab einen Fick darauf gegeben, ob mich jemand oder wer mich sieht. Ich brauchte das einfach. Und
manchmal schließe ich mich drei Tage Zuhause ein und wandere nur vom Bett ins Bad und zur Couch. Eine Runde Solitär auf dem Handy war schon mal das einzige, was mich runterbringen konnte. Wichtig
dabei ist, dass ich nachspüre, ob ich etwas tue um mich abzulenken, oder ob ich etwas tue, bei dem ich den Drachen im Auge behalte mich aber trotzdem nur mir selbst zuwende. Es ist schwierig das
zu erklären, aber da besteht ein Unterschied. Ein sehr wichtiger Unterschied. Denn Ablenkung ist natürlich von Zeit zu Zeit willkommen und wichtig. Aber die Zeit für sich nutzen bedeutet die
Gedanken und Gefühle zu registrieren, sie nicht wegzuschieben sondern sie sein zu
lassen. Ihre Existenz anerkennen, sich darin aber nicht verlieren sondern gut zu sich sein. Sich selbst Freude bereiten. Und wenn ich ganz wild bin, dann zünde ich mir ein paar Kerzen im Bad an
und setz mich in die Wanne. Ganze zwanzig Minuten!
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