Das große und das kleine Nein

Ich kann mich an viele tolle Geschichten erinnern, die meine Eltern mir vorgelesen haben. Die Geschichte von Excalibur und Merlin zum Beispiel. Oder „Der verhexte Knödeltopf“. Auch die Geschichten aus dem Fabelwald haben uns das Einschlafen oder Gesundwerden erleichtert. Im Zuge meines Germanistikstudiums habe ich mich irgendwann mal mit dem Einfluss der Literatur, besonders Märchen und Mären, auf gesellschaftliche Konventionen beschäftigt. Bei mir, kann ich rückblickend sagen, hat nur eine Geschichte einen wirklich bleibenden Eindruck hinterlassen. Und das war kein Märchen, eher ein Ratgeber. Die Geschichte vom großen und vom kleinen Nein. Ein Kinderbuch, das mit schönen Zeichnungen und einfachen Beispielen Kinder dazu ermutigen soll, nein zu sagen. Vor allem die körperliche Selbstbestimmtheit wird hierbei bedacht. Ein Mädchen sitzt auf einer Parkbank und ein Fremder möchte neben ihm Platz nehmen. Sie sagt leise und höflich „nein“, wird überhört und der Mann nimmt Platz. In der nächsten Situation wird das Mädchen zum Teilen ihrer Schokolade aufgefordert. Wieder ein kleines, freundliches Nein. Als ihr zum Ende der Geschichte ein Kuss gegen ihren Willen aufgedrückt werden soll springt sie auf und schreit ihr lautes NEIN in die Gesichter der verstörten Eindringlinge.
Wir Kinder haben’s manchmal ganz schön schwer mit den Erwachsenen! Sie fragen, ob sie irgendetwas dürfen, du sagst höflich und leise NEIN! und was passiert? Sie hören gar nicht hin und machen es trotzdem. Da musst du schon mal deutlich werden. Ich war sogar richtig laut und das hat prima geklappt.1
Eine Ermutigung also, für sich einzustehen, wenn nötig auch laut und deutlich. In der Klinik hatten wir eine Gruppentherapieform, in der wir Szenarien durchspielen konnten, die wir im realen Leben außerhalb der Klinikwände anders bewerkstelligen wollten. Sehr, sehr, sehr oft übten wir dort gemeinsam das Neinsagen. Aber meistens ging es in den gestellten Fällen nicht um das Einstehen für die Selbstbestimmung im physischen Sinne, sondern um die Selbstbestimmung auf zwischenmenschlicher Ebene. Viele von uns, mich eingeschlossen, sind ganz typische Freundschaftsjasager. Jeder hat mindestens einen Freund oder eine Freundin, zu der man nicht nein sagen kann. Obwohl man gar keinen Nerv für die ganzen Probleme der doch so geschätzten Person hat, quält man sich zum Kaffedate. Obwohl man total kaputt von der Arbeit ist, rafft man sich am wohlverdienten Freitagabend nochmals auf, um doch noch feiern zu gehen. Man tut Dinge außerhalb des vertretbaren, im imaginären Freundschaftshandbuch festgelegten Rahmens, die einen ermüden, auf die man eigentlich keine Lust hat. Der andere merkt nicht, wie viel Energie es dich kostet, dich nach einer anstrengenden Woche in deine Ausgehklamotten zu werfen und den ganzen Abend ein festgetackertes Lächeln zu tragen. Er meint es nicht böse, wenn es das ganze Treffen nur um seine Probleme geht. Und man selbst kann nicht nein sagen.
Ich konnte immer richtig gut nein sagen. Ganz früher. Ich war rotzfrech, obercool und war prinzipiell gegenüber allem und jedem erstmal negativ eingestellt. „Nö, kein Bock“ war die Devise. Teenie eben. So konnte ich am besten anecken und wenn man aneckt lockt man Menschen aus der Reserve. So sieht man relativ schnell viele Facetten eines Charakters. Blöd war ich nicht, nur frackig.2 Aber das half mir auch, für mich selbst einzustehen. Ich war nie introvertiert, abweisend oder asozial. Meine Empathie ist schon seit ich denken kann sehr ausgeprägt, ich hatte immer schon gern ein offenes Ohr für alle. Ich habe damals aber auch nie an mir, meinem Charakter oder meiner Liebenswürdigkeit gezweifelt. Bis zu einem Arzttermin und der darauffolgenden Jahre. Der Drache kroch zu dieser Zeit lautlos in mich hinein und errichtete sich sein Nest aus Selbstzweifeln. Und mit den Selbstzweifeln kam auch die Angst, nicht mehr gemocht zu werden. Nicht mehr geliebt zu werden. Und das Neinsagen fiel auf einmal schwerer. Weil ein Nein zu meinem Gegenüber zu einem Nein mir gegenüber führen könnte. Denn wenn ich nicht immer für alle da bin, wer ist dann für mich da? Das funktioniert übrigens auch sehr gut im Arbeitsverhältnis. Wenn man nie nein sagt, jede Schicht übernimmt und immer Überstunden schiebt, dann wird man unentbehrlich. Dachte ich zumindest. In der Ausbildung vor ein paar Jahren, ich war noch im Ich-sage-niemals-nein-und-immer-ja-Modus, öffnete mir eine Vorgesetzte auf sehr harte Weise die Augen: „Spanky, geh bitte nach Hause. Lass dich krankschreiben. So leid es mir tut, und so gern ich dich auch habe, aber deine Arbeitsleistung ist ersetzbar. Hier ist jeder ersetzbar. Also geh bitte nach Hause, damit jemand einspringen kann, der deine gewohnte Arbeitsleistung ersetzt. Neun Stunden über der Schüssel bringst du uns hier gar nichts.“ Dass aus dieser Krankschreibung damals ein halbes Jahr gelber Schein und schließlich meine Kündigung wurde wusste noch keiner. Ich auch nicht. Ich war zutiefst getroffen, beleidigt, wütend. Da reißt man sich den Hintern auf, kommt zur Arbeit, obwohl man anscheinend den schlimmsten Magen-Darm-Effekt seit Anbeginn der Zeitrechnung hat, und bekommt gesagt, dass man ersetzbar ist. Das war nicht der netteste Weg mir den Gedanken hinter diesen Worten näher zu bringen aber Recht hatte sie. Wenn ich nicht wirklich der einzige Mensch auf der Welt bin, der meinen Job erledigen kann, dann bin ich ersetzbar. Ich kann es mir also leisten nein zu sagen. Ich muss mir herausnehmen nein zu sagen, damit ich ja zu mir selbst sagen kann. Nein zu sagen bedeutet nicht gleich, dass man kein Interesse hat. Oder dass einem das Gegenüber nicht wichtig ist. Aber ich habe lernen müssen nein zu sagen, um Zeit und Energie für mich zu haben. Und ich habe lernen dürfen, dass ich mir auch in Freundschaften und Beziehungen ein Nein leisten kann. Weil ein Nein nicht alle vorherigen und zukünftigen Jas degradiert. Wenn ich auf mich aufpasse und dem Drachen zuwende dann döst er vor sich hin. Und wenn er gar einschläft, dann habe ich Zeit und Energie für alles andere. Und ich gebe sie so gerne an meine Liebsten! Mit vielen von ihnen tanke ich beim Beisammensein sogar viel Energie auf. Gute Gespräche, gemeinsames Lachen und Weinen, Liebe zeigen – all das füllt meine Tanks mit Lebensenergie. Aber Streitereien, Arbeitsstress, universitäre Anforderungen, Sorgen um andere, das alles hat seinen Preis. Und wenn der Drache dann noch das Gefühl hat unwichtig zu sein und nicht gehört zu werden.. Halleluja, dann muss ich immer öfter zu Dingen nein sagen, die mich zusätzlich Energie kosten. Das können sportliche Aktivitäten sein, wuselige Partys, lahmer Smalltalk, Kaffeekränzchen, Geburstagsfeiern, alles. Alles was mich daran hindert, den Rest meiner schwindenden Energiereserven für mich und meine Bedürfnisse zu nutzen. Und wenn ich dann nein sage, dann nicht aus Boshaftigkeit, nicht aus Desinteresse, nicht weil mir etwas oder jemand anderes wichtiger ist. Sondern weil ichmir am wichtigsten sein muss. Die Angst, dass mich das weniger liebenswert macht, sorgt dafür, dass mein Nein oft klein und schüchtern ist. Teilweise sogar verstummt. Aber es muss groß sein. Mein Nein ist der Aufpasser des Drachens. Es verteidigt ihn – und mich. Es ist nicht herrschsüchtig oder unfair, aber es ist bestimmt und selbstbewusst. Weil es verantwortlich für mich ist. Weil es gut für mich ist. Es ist gut auch mal nein zu sagen. Du bist nicht gut obwohl du nein sagst, du bist gut weil du nein sagst. Und bitte sag ja zu dir selbst.

1 Aus Reflex habe ich hier eine Fußnote eingerichtet – wegen Zitat und so. Seht ihr, liebe Mama, lieber Papa, das Studium hinterlässt doch seine Spuren :D

2 Das ist Rheinisch; bedeutet so viel wie trotzig, zickig, aber auch feindselig

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