Ich kann nicht viel mit Wandtattooweisheiten anfangen. „Lebe! Liebe! Lache!“, „stay
positive!“, „stop thinking, start living!“ sind für mich platte, unachtsam in die Welt gespuckte Klugscheißereien, die immer leicht zu posten aber im wahren Leben doch schwierig umzusetzen sind.
Starkmachsprüche, Motivationsfloskeln, echt nicht mein Ding. Die abgedroschene Aussage „Ich bin kein Optimist, kein Pessimist, ich bin Realist“ passt ganz gut. Welch Ironie! Die
Germanistikstudentin schreibt einen Text über ihre Abneigung gegen #motivationquotes und erklärt sie mit einer Plattitüde. Aber die Kernaussage ist eins der wenigen Dinge, die mein Ich vor dem
Drachen und das Ich nach seinem Einzug miteinander verbindet. Kiki 1.0 und Kiki 2.0 haben ihre Leben als Realisten als gleichen Nenner. Auch wenn Kiki 2.0 mehr zum Pessismismus neigt und Kiki 1.0
sich eher zwischen Opti- und Realismus einordnete. Aber jeder wird mal erwachsen und muss einsehen, dass es mit einem „stay positive!“ oftmals nicht getan ist. Und dann kommt auch noch eine
Erkrankung dazu, die mich alles intensiver fühlen, vieles viel schwerer erscheinen lässt. Eine Krankheit, die mir ein so schwarzes Schwarz meiner eigenen Seele zeigt, dass selbst der DIOCLES
Laser machtlos wär. Dieses Schwarz ist so tief schwarz, dass ich es nur von innen heraus langsam aufhellen kann. Ein „Positive Gedanken bringen positive Erlebnisse“ kann meinen Drachen nicht zum
Schweigen bringen. Kein „change your thoughts and you’ll change the world“ hält ihn davon ab, mich auszulachen, während mein Herz vor Angst zittert. Aber trotzdem helfen diese Instagramposts
tagtäglich tausenden von Menschen, nicht dem Wahnsinn zu verfallen. Zumindest liken viele tausend Menschen solche Sprüche, sie kleben sich beim OBI erstandene Schnörkelbuchstaben an die
Wohnzimmerwände. Und ja, auch ich, Ms. Realist, hat in ihren letzten Posts solche klugen Weisheiten zum Besten gegeben – und ich versuche sie gewissenhaft umzusetzen. Aber bis vor ein paar Tagen
hat mir dieser eine prägnante Satz gefehlt, den ich mir selber als Dauerschleife ins Gehirn setzen möchte. Etwas, das ich mir selbst trotz der alles einnehmenden Angst oder Wut in mir drin als
imaginären Rettungsanker zuwerfen kann. Damit ich nicht ertrinke in diesem Meer aus Selbstzweifeln, dessen Wellen mich herumwirbeln und orientierungslos, nach Luft schnappend umhertreiben lassen.
Natürlich bin ich nicht ganz von selbst darauf gekommen und sicherlich gibt es diese Phrase schon in hundertfacher Ausführung mit anderen Worten beschrieben. Aber für mich ist es ein kurzer Satz,
der mich seit seinem Gewahrwerden daran erinnert, dass meine schlechten Seiten nicht die guten verdrängen.
Ich. Bin. Mehr.
Ich bin mehr. Drei Worte, so viel Bedeutung. Und was steckt dahinter? Dass du mehr bist
als die Angst, die dich zu blockieren droht. Du bist mehr als die alles in rasendes Rot verwandelnde Wut. Du bist mehr als die schwarze Masse, die dein Herz umklammert und dem Drachen zujubelt,
während er in deiner Seele Amok läuft. Du bist auch das alles, ja. Aber eben auch mehr. Ich bin mehr als nur mein Körper, der sich jedes Jahr neue Schwachpunkte ausdenkt, um meine Geduld mit
unfähigen Medizinern auf die Probe zu stellen. Ich bin mehr als eine blauäugige Fakeblondine, die nichts von Mathematik versteht. Ich bin mehr als ein chronisches Rückenleiden, welches mir das
lange Stehen, Liegen oder Sitzen schwer macht.
Das zu schreiben ist in etwa so einfach wie Zähneputzen. Schwierig ist wohl, das „mehr“
zu benennen. Was kann ich denn gut? Worin bin ich vielleicht besser als der Durchschnitt? Was macht mich zu mehr? Um das herauszufinden bat mich meine Therapeutin noch vor der Klinik, meine Hände
auf einem A3-Zeichenblockpapier nachzuzeichnen. Ich war verwundert, tat jedoch wie mir geheißen. Im Kindergarten war ich eigentlich seit 18 Jahren nicht mehr. Nun sollte ich in jeden Finger eine
Qualität von mir schreiben, die ich als positiv bewertete. Ganz schön schwierig.. Zehn Dinge aufzählen, die ich selbst an mir mag? Auch heute fällt mir das auf Anhieb nicht leicht. Mit ihrer
Hilfe schaffte ich es bis zum Ende der Sitzung tatsächlich auf zehn mehr oder weniger verschiedene Eigenschaften. Wohl fühlte ich mich dabei aber nicht. Selbstbeweihräucherung ist keine Tugend.
Man lobt sich nicht selbst, Kritik spornt einen an. Man möchte doch stetig besser werden. Ein besserer Mensch, die beste und aktuellste Version seiner selbst. Zuhause dann, bei Tommy und mir im
Wohnzimmer, schämte ich mich. Ja, ich halte mich für intelligent und einfühlsam aber was ist, wenn ich falsch liege? Noch peinlicher als stinkendes Eigenlob ist doch wohl die Selbstüberschätzung.
Zum Glück wohnte ich nicht nur mit Tommy zusammen, uns verband auch eine alle Scham vergessen lassende Freundschaft. Wir haben uns alles erzählt. Also konnte ich ihm auch dieses total dämliche
Bild von meinen Händen zeigen, auf deren Finger Worte geschrieben standen, die mir jetzt überheblich und eingebildet vorkamen. Aber statt dass Spott oder fragende Blicke seine Antwort waren
stimmte er den Fingeraussagen zu. „Das stimmt alles. Du bist doch voll lustig! Und einfühlsam. Und auch klug!“ Gott sei Dank! Oder..Log er? Würde er sowas machen? Naja, eigentlich finde ich das
ja auch. Und wenn er es auch so sieht kann es doch nicht so falsch sein. Oder liegen wir beide falsch? Aaahhh..! Bei so einem Kopfkrampf hilft es mir total, rational und objektiv zu
urteilen:
Nummer 1: Wieso sollten mich meine Freunde anlügen, wenn sie mir Komplimente machen
oder meinen Charakter loben?
Da kommt Nummer 2 ins Spiel: Ich halte meine Freunde für ganz großartige,
liebenswürdige Menschen. Ich lege Wert auf ihre Meinung und ihren Rat, ihr Zuspruch bedeutet mir sehr viel. Kann ich mir vorstellen, dass sie mit einem menschlichen Totalausfall zu tun haben?
Wären sie mit einer nervigen Vollidiotin befreundet? Würden sie sich von allein bei jemandem melden und nach einem Kaffeedate fragen, wenn sie lieber keine Zeit mit mir verbringen würden? Nein.
Also MUSS ich irgendwie schon ein bisschen cool sein. Auch wenn mein Drache mir andere Sachen zuflüstert oder ins Ohr schreit. Ständig meckert er mit mir, sagt mir, was für eine Verliererin ich
bin. Dass ich mehr Fehler habe als Qualitäten und dass mich niemand mag. Aber so ganz nüchtern betrachtet habe ich Freunde. Die Besten der Besten sogar. Und ich muss ihnen glauben. Denn wenn ich
ihnen nicht glaube, dann spreche ich ihnen ihre Mündigkeit ab. Und wenn ich etwas gar nicht leiden kann, dann wenn jemand anderes meint besser wissen zu können, was ich ernst meine und was nicht.
Also kann ich anderen auch nicht sagen, sie lügen mich an, wenn sie mir aufbauende und schmeichelnde Worte zusprechen. So ganz objektiv. Klar, der Drache quäkt oft dazwischen und wenn er mein
Herz in seinen schuppenüberzogenen Klauen hält und fast zerdrückt, dann fällt es mir schwer, das alles objektiv und rational zu sehen. Aber umso wichtiger ist es, dass ich mir in guten Momenten
all diese Sachen wieder bewusst mache. Ich muss es ausnutzen, wenn der Drache wegdöst und mir meine positiven Eigenschaften und mein Können wieder ins Gedächtnis rufen. Denn je öfter ich mich
selbst daran erinnere, umso mehr meine Liebsten mich daran erinnern, desto tiefer dringt die Wahrheit der Worte auch in den zornigen Geist des Drachen. Und ich hoffe sehr, dass auch er merkt,
dass ich mehr bin. Mehr als nur mein Schwarz, mein Seelenkrebs, meine Wut und meine Trauer. Ich bin mehr als nur mein Drache. Ich bin so viel
mehr.
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