Heimscheißer

Mit vierzehn bin ich bei meiner Mama ausgezogen. Das Weihnachtsgeschenk eines durchgeknallten Teenagers, bei dem der Drache ungesehen wütete und schon die ersten verbrannten Felder hinterließ, obwohl noch gar nicht klar war, dass er eines Tages für immer einziehen würde. Fast anderthalb Jahre nach Einzug ins Haus mit Papa und Stiefmama wurden die Zelte abgebrochen und in einem neuen Haus erneut errichtet. Vier Jahre später, also mit neunzehn, bin ich von Zuhause ausgezogen, Dreier-WG nach dem Abi. Nach dieser wilden Zeit samt Ferien in der Klapse kamen dann zwei Monate Couch bei Mama. Und danach, 2014, bin ich ins Studentenwohnheim gezogen. Dort einzuziehen fiel mir sehr schwer. Vor allem, weil mein Zimmer zur Hälfte aus Schrägen bestand. Wer braucht Schrägen bei 16qm Grundfläche? Auch mit drei wildfremden Menschen den selben Topf und den gleichen Pott zu teilen gehörte nicht zu meiner Top 10 von Dingen, die ich immer mal erleben wollte. Aber Geldnot, Drachenkampf und daraus resultierende Arbeitsunfähigkeit im großen Stil ließen das ersehnte Südstadt-Loft mit Elisabethkirchenblick in weite Ferne rücken. Wider aller schlimmen Erwartungen waren meine Mitbewohner wirklich tolle Menschen und wir wurden nach kurzer Zeit gute Freunde, die man die meiste Zeit im Pyjama um sich hatte. Und es fühlte sich an, als sei ich angekommen. Nicht, dass ich mich in den Wohnungen und Häusern zuvor nicht Zuhause gefühlt hätte, aber während der Klinikzeit wurde mir bewusst, dass mir das Gefühl Heimat nicht in Zusammenhang mit Orten in den Sinn kam. Sondern mit Personen. Vor allem mit meiner Mama. Eine dreimonatige Abstinenz nach meinem Auszug hatte unseren Ärger verfliegen lassen. Sie lud mich nach meinem Geburtstag nach Tunesien ein, zehn Tage Strandurlaub, nur wir zwei. Es war großartig. Wir hatten eine Menge Spaß, gute Gespräche und fanden unsere Gemeinsamkeiten wieder. Da erinnerte ich mich daran, dass meine Mutter für mich „Zuhause“ bedeutet. Aber da im Wohnheim, in meinem verwinkelten Zimmer mit Ausblick auf einen Wendehammer, da fühlte ich mich auch richtig Zuhause. Mein eigener Geruch, einzig meinePräsenz machte diesen Ort zu genau diesem Ort. Meinem Zuhause. Wenn ich durch die schwere Wohnungstür, vorbei an den zwei Bädern, mit raschem Blick in die Küche, in mein Zimmer kam, dann umgab mich Sicherheit. Ein Ort, an dem ich genau so sein kann, wann auch immer ich was auch immer bin. Traurig, müde, wütend, schwach, träumend, ehrgeizig, faul, schlafend, essend, fröhlich, tanzend, laut und leise. Auch in der WG mit den Jungs nach dem Abi hatte ich mein eigenes Zimmer. Trotz Beziehung hatten wir uns dagegen entschieden, nur eine Schlafmöglichkeit für uns zu schaffen. Die Dienstpläne der unterschiedlichen Betriebe war nur eines der guten Argumente dafür. Der Dritte im Bunde, Tommy, hatte zwar das größte Zimmer, dafür aber auch den schwarzen Peter des Wohnzimmerersatzes. Aber diese spannende Erfahrung endlich nicht mehr unter Aufsicht der Eltern zu stehen, endlich die frische Luft des Flüggewerdens um die Nase zu spüren, die sorgte für eine allseits geliebte und gelebte Open-Doors-Policy. Denn wenn man Zuhause war, dann saß man eh zusammen. Oder schlief. Und dann im BKW, 2014, da war die anfängliche Anonymität für mich die Möglichkeit, mir ein Schneckenhaus zu errichten, in das ich mich zurückziehen konnte. Die Bude sah aus wie ein Teeniezimmer. Aber keines der heutigen Instagram-All-In-White-Dorms, sondern ein Zimmer der Neunziger. Die Wände voll mit Bildern, Postkarten, Fotos, Dekoscheiß. Aber es war alles meins. Nur meins. Mein Schatz. Und dann schenkten uns Papa und seine Frau eine Kreuzfahrt. Tobi, Paps samt Ehefrau und ich auf der AIDA im Persischen Golf. Von Dubai nach Abu Dhabi und zurück. Und zuerst war es das Allercoolste der ganzen Welt (Papa weiß, wie man super Geschenke macht) aber dann kam auch ein bisschen Angst in mir hoch. Der Drache machte mir bewusst, dass ich meinen sicheren Hafen verlassen würde. Ich würde buchstäblich in neue Gewässer aufbrechen. Acht ganze Tage weit, weit weg von meiner Komfortzone. Weit weg von meinem Zuhause. Und ich geriet ins Wanken, ob ich das durchstehen könnte. Die ersten Tage waren in der Tat schwer für mich auszuhalten. Dass ich dummerweise auch noch seekrank bin wusste ich nach Ablegen des Schiffes dann auch. Man kann sich vorstellen, dass es weder für mich, noch meine Liebsten eine Freude war, die Sprints zu nahegelegenen Toiletten mitzuerleben. Am letzten Tag vor der Heimreise stand eine Fahrradtour in Dubai auf dem Plan. Ganz in alter Kikimanier wurde ich wie in jedem Urlaub mit meinem Papa krank, ich blieb also auf dem Schiff, während die anderen drei Urlauber Dubais Hafen mit ihren Drahteseln erkundeten. Und ich lag dort an Deck, ein gutes Buch in der Hand, endlich mal nicht eingepfercht wie eine Sardine, weil der letzte Tag auch die letzte Möglichkeit für Souvenirs bot und das Schiff deswegen angenehm leer war. Und ich erinnerte mich an ein paar Tage zuvor, als ich wieder mal später zum Abendessen erschien, da mein Drache, die Seekrankheit und der Schwindel Unterhaltungen von Toilette und mir forderten. Ich lief den langen, mit Teppichboden ausgelegten Flur entlang, auf dem sich auf beiden Seiten Zimmertüren aneinanderreihten. Und umso weiter ich mich von unserer Außenkabine mit Meerblick entfernte, desto mulmiger wurde mir. Ich hatte die letzten Tage viel Zeit dort verbracht, kannte nun die Lichtschalter, das Toilettengeräusch, den Seifengeruch. Ich hatte meine Wäsche im Schrank geordnet und eine Plastiktüre für Schmutziges im unteren Schrankstück positioniert. Alles war wie ein kleines Zuhause. Und nun, wo ich mich von diesem Zuhause entfernte, wo ich diesen schier endlos langen Flur entlang lief und der Schwindel mich zwang meine Augen zusammenzukneifen, da fühlte es sich wieder so an, als würde ich das verlassen, was sich nach Zuhause anfühlte. Wie damals, als ich bei Mama auszog. Oder als wir nach kurzer Eingewöhnungszeit umzogen. Als ich in die WG mit den Jungs zog. Als ich nach dem Abstecher bei Mama ins Studentenwohnheim ging. Und ich blieb stehen und streifte mit meinem unklaren Blick die Türknäufe, die goldenen Verzierungen der Rahmen, die Fußleisten aus Messing und den mittig schon abgenutzten Teppich. Das Notausgangsschild in noch zumutbarer Entfernung flackerte hollywoodlike auf und ich überlegte mir, wie es wohl wäre, wenn ich in jedes Zimmer, jede Kabine eintreten dürfte. Ich würde dort alles genau anschauen, mich vielleicht auf dem Bett niederlassen. Ich könnte den Schrank ausräumen, die Klamotten fremder Menschen wie meine eigenen tragen und mich durch ihre Minibar trinken. Oder ich könnte kurz hineinschauen und mich wieder umdrehen. Hinausgehen. Die nächste Tür nehmen. Die Aussicht auf all die möglichen Entwicklungen und Entscheidungen, die diese Fantasie mit sich bringen würde ließ meinen Drachen aufschreien. Was zum Kuckuck?! Mehr Optionen bedeutet mehr Gefahren und mehr Gefahren bedeuten mehr Verletzungen und mehr Verletzungen bedeuten mehr Schmerz und mehr Schmerz bedeutet mehr Trauer und wir hassen Trauer also RENN! Ich stolperte zurück, drehte mich um und ging zurück zu unserer Kabine. Immer wieder ein neues Nest errichten, wer schafft denn sowas? All die Schulfreunde, die für das Studium oder die Ausbildung in andere Städte, andere Länder gezogen sind – wie machen die das? Ich bin so ein verdammter Angsthase. In den Urlaub fahren ist für mich schon eine Herausforderung. Eine Nacht bei jemand anderem schlafen kommt wirklich nur im äußersten Notfall vor. In anderen Städten noch seltener. Ich bin ein Heimscheißer. In jeder Hinsicht. Und diese Angst vor den neuen, noch unbekannten Möglichkeiten sperrt mich ein. Ein kleiner aber mutiger Schritt damals: Raus. Ich stand wieder auf, straffte meine Schultern und marschierte den eben noch so hektisch entlanggetrabten Flur hinunter zu den Aufzügen.
Daran erinnerte ich mich, als ich allein, umgeben von Seeluft und Hafengeräuschen, in der Sonne lag und mir im Februar einen Sonnenbrand an der Küste von Dubai holte. Und ich schmunzelte, weil mir dieser Anflug von Panik ein paar Tage zuvor wie eine entfernte Erinnerung aus einer Romangeschichte vorkam. Ich hatte es doch geschafft. War den letzten Tag des Urlaubs zwar krank aber für mich. In der Sonne, ohne Verpflichtungen. Ich hatte eine Woche Urlaub mit einem Teil meiner lustigen und abenteuerfreudigen Patchworkfamilie hinter mir. Vor mir lag die Heimreise in mein geliebtes Nest aus Gewohnheit und Altbekanntem. Ich hatte es auch geschafft, diese Reise in Momenten ohne Übelkeit richtig zu genießen, Kraft zu tanken. Und ich erkannte, dass es nicht nur darauf ankommt, wo mein Zuhause ist, sondern ebenso darauf, dass ich selbstmeine Heimat bin. Egal wo ich auf der Welt bin kann ich mir Gutes tun. Egal wo ich auf der Welt bin schlägt mein Drache mir hinterrücks ein Schnippchen. Egal wo ich bin begleiten mich meine Ängste. Und heute, drei Jahre nach dem Urlaub, stelle ich mir gerne vor, dass ich auf dem Flur der AIDA stehe. Ich stehe dort, fühle das kalte Messing der Türknäufe und öffne jede Tür. Und wenn ich bleiben will, dann bleibe ich. Und wenn ich gehen will, dann gehe ich. Denn da wo ich bin, da ist meine Heimat. Und da wo meine Heimat ist, da kann ich sein was auch immer ich wann auch immer sein will. Und egal, wo mein ortsgebundenes Zuhause ist, meine Heimat kommt mit mir mit.

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