Wenn (Alb-)Träume wahr werden

Manchmal habe ich einen Traum. Ich liege auf einer Krankehausliege, um mich herum stehen Schwestern, ein Arzt, mein Bruder. Ich halte seine Hand. Das grelle Licht der Stehlampe sticht in meinen Augen, ich rieche trotz Mundschutz den Kaffeeatem des Doktors. Tobis Hand in meiner ist kalt, aber vielleicht ist auch meine Hand so kalt, dass es sich nur so anfühlt. Ich spüre ein Ziehen im Hals, seitlich, es brennt in meinem Kopf. Panisch versuche ich still zu halten, meine Füße werden von einer Krankenschwester festgehalten. Der Faden in meinem Hals löst sich, ich spüre erst einen mich fast zerreißenden Schmerz, der bis zu meinen Zehen peitscht und dann so etwas wie ein kurze Erleichterung. Der Faden verlässt mein Fleisch, die Naht öffnet sich. Einer von vieren ist draußen. Also noch dreimal. Beim Gedanken an diese Tortur wird mir schwindelig, ich glaub das war’s. Ohne Betäubung setzt der Arzt zum nächsten Schnitt an. Die Infektion der Wunde ist zu weit fortgeschritten, keine lokale Anästhesie hätte gewirkt. Ich spüre wie er den zweiten Faden mit der spitzen Schere zerteilt, spüre das Aufgehen der frischen Wunde unterm Druck der darunterliegenden Schwellung. Ich höre Tobis Schnaufen, weil ich versuche den Schmerz vom Hals über meine Hand in seine zu leiten. Es funktioniert nicht. Eine Träne verlässt meinen Augenwinkel. Aus Wut, nicht wegen der lähmenden Schmerzen. Ich hasse diesen Arzt, dieses Krankenhaus, was er mir antut, es sich so anfühlt als würde er ein gutes Stück Roastbeef tranchieren. Ein rosafarbenes, totes Stück leckeres Rind. Nur ich bin nicht tot. Ich liege hier und fühle mich so lebendig wie nie. Und kann mich nicht bewegen. Hektische Bewegungen sollte man vermeiden, wenn Scheren in deinem Hals stecken. Und auch bei Skalpellen, Spritzen oder Pinzetten ist Vorsicht geboten. Mein Herz ist also ungefähr bei 300 bpm, mein Adrenalinspiegel übersteigt den von Jason Statham in „Crank“ um das Dreifache. Und ich darf mich nicht bewegen. Schweißgebadet lasse ich Tobis Hand los und vergrabe meine Fingernägel in meinem Bauch. Ich muss den Schmerz umleiten…
Und dann wache ich auf. Schrecke aus diesem Albtraum hoch und suche mit den müden Augen panisch einen Gegenstand, der mich daran erinnert, wo ich mich befinde. Dass ich mich nicht auf der Liege im Krankenhaus befinde, dass kein medizinisches Personal an mir herumschnibbelt. Und ich weiß, dass ich dort nicht bin. Nicht mehr. Denn dieser Traum ist kein erfundenes Gedankenspiel meiner Phantasie, es ist Realität. Nach einer misslungen Routine-Operation am Hals, bei der chronisch entzündete Lymphknoten entfernt wurden, bildete sich eine Sepsis. Ein bisschen zu lang wurde mit der Behandlung nach meiner Rückkehr ins Krankenhaus gewartet und so kostete mich die Entzündung nicht nur eine Woche meines Lebens, die ich komplett auf Opium verbrachte, sondern auch viel Blut, Schweiß und Tränen, um mich davon zu erholen. Nach dem Öffnen der entzündeten Narbe wurde das durch die Bakterien gefutterte Loch offen gelassen, um es langsam von innen nach außen abheilen zu lassen. Etwas über sieben Jahre ist es nun her, man sieht die Narbe kaum noch. Der Arzt von damals sagte abschließend „Wir haben das schon gut gemacht. Die Narbe liegt genau in Ihrer Halsfalte.“ Ist es erwähnenswert, dass ich bei 1,75 und den damaligen 47 Kilo keine Halsfalten besaß? Oder dass die von ihm genannte „Halsfalte“ das Resultat einer von Zaubehand verursachten Bakterieninvasion war, die mir nicht nur Teile des Hals-Gewebes sondern auch des Kiefers wegschnabuliert hatte? Vielleicht.. Wie dem auch sei, mittlerweile ist nicht mehr viel von diesem Ereignis zu sehen und das Angst einflößende Gefühl, wenn jemand oder etwas die Narbe am Hals berührt, ist fast verschwunden.

Und manchmal fragt mich jemand, wie es so ist, Therapie zu machen. Und es ist genauso wie dieses das Bewusstsein erweiternde Erlebnis aus dem Jahre 2010. Alte Wunden, ausgelöst durch Erlebnisse, Ängste, Bedürfnisse, haben sich entzündet, sind nie ganz abgeheilt. Und eine Depression ist wie die Sepsis, die Reaktion des Körpers, dass da etwas im Argen liegt. Dass Bakterien, widerliche Gefühls- und Gedankenmonster, Drachen, Wölfe, schwarze Hunde, sich in die Wunden reinfressen und Unfrieden stiften. Die Wunde am Heilen hindern. Und man muss zu einem Spezialisten gehen, der einem Hilft, die Wunden zu öffnen und sie zu behandeln. Nur dass ein Therapeut das im besten Fall empathisch und mit Bedacht macht. Und man statt eine Schere reinzurammen und mit Octenisept zu spülen Gespräche führt, Ursachen aufspürt. Tränen fließen immer, das lässt sich nicht vermeiden. Ist ja quasi das Desinfektionsmittel der Seele. Und wenn ich das so schildere wird dem anderen bewusst, was eine Tortur eine Therapie ist. Es lässt sich hoffen, dass es eine Tortur mit einer geheilten Wunde und einer nur noch manchmal juckenden Narbe zum Schluss ist. Aber bevor es dazu kommt muss man sich diesem realen Albtraum aus aufklaffenden Wunden der Seele stellen und verstehen, woher die Schmerzen, die dich von oben bis oben lähmen, obwohl du unter Strom stehst, kommen. Und wenn man verstanden hat, woher sie kommt, diese Wunde, dann muss man akzeptieren, dass sie sich entzündet hat. Sie darf nicht ignoriert werden. Und dann muss man das unmöglich Erscheinende akzeptieren: man muss sich helfen lassen. Man muss zulassen, dass man Dinge nicht allein durchstehen kann und kein Verschließen der Augen dafür sorgt, dass sich die Probleme in Luft auflösen. Und wenn man sich gekümmert hat, wenn die Wunde heilt, wenn die Narbe nicht mehr ständig spannt, dann muss man loslassen. Muss den Schmerz, die Wut, gehen lassen. Man wird merken, wann es Zeit dafür ist, man weiß aber auch, dass die Wetterfühligkeit an grauen Tagen dafür sorgt, dass Ziehen und Jucken an alte Wunden erinnern. Nur wenn man die Prozedur durchgestanden hat, dann verfliegt die aufkommende Panik schnell. Man schickt den Schmerz in die Wüste, der Albtraum bleibt als eine Erinnerung, nicht als rostiger Nagel im Getriebe. Und man kann sich wieder öfters an weiße Strände, irische Klippen oder an Seen mit Freunden träumen.

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