Gönn dir, Brudi.

Ich mag die deutsche Sprache wirklich gerne. Aber was mir oft auffällt sind die fehlenden Wörter. Die deutsche Sprache besitzt einen wirklich umfassenden Wortschatz, das Dudenkorpus verzeichnete Anfang 2017 knapp 23 Millionen Grundformen. Das sind eine Menge Buchstaben in richtiger Reihenfolge. Und trotzdem gibt es kein Wort, dass das Gefühl von positivem Neid betitelt. Aber ich bin ständig positiv neidisch. Oder eben nicht neidisch. Ich kann sehr gut gönnen. (Nur keinen Sieg bei „Phase 10“, #sorrynotsorry). Aber es ist dieses Gönnen mit dem „Maaan, ich will auch!“ dabei. Und das ist ja schon irgendwie Neid. Seltsam, dass sich noch kein Begriff dafür gefunden hat. Viele der Menschen in meinem Umfeld sind positiv neidisch, können gönnen. Ich liebe das. Wir sind alle eine große Horde Cheerleader, die sich gegenseitig mit den Pompons zuwedelt, wenn wieder ein Schritt nach vorn getan wurde. Und dabei spielt es keine Rolle, ob jemand ein Buch veröffentlich - „Wooohooo, du bist der GEILSTE!“ – oder jemand eine Klausur besteht – „Bäääm! 4,0 ist bestanden, bestanden ist gut und gut ist mindestens 2,0!“. Besonders wenn jemand selbst keinen Grund zum Ausflippen, zum sich selbst Feiern hat und trotzdem als wilder Support an der Seitenlinie steht und die Arme in die Luft wirft. Immer wieder treffe ich jedoch in unvermeidbaren sozialen Interaktionen auf Menschen, die einfach nur neidisch sind. Abgesehen von der Antipathie bekomme ich auch immer Mitleid mit den armen Würstchen. Wie furchtbar es ist, dass man jemand anderem keinen Erfolg, kein Glück, keine Liebe, kein Lachen gönnt, nur weil man selbst eine schwarze Wolke um sich trägt – weshalb auch immer. Wenn der andere nicht gerade Schuld an deiner Misere hat dann reiß dich am Riemen und gönne ihm oder ihr was auch immer. Ich habe das Gefühl, das hat man viel zu selten. Eine Eigenschaft, die ich selbst an mir schätze ist meine Freude für andere. Ich finde es einfach toll, wenn meine Liebsten Fortschritte machen, egal ob privat oder beruflich, ob im Studium oder mit dem Haustier. Ich bin stolz und dankbar, dass sie ihr Wachstum mit mir teilen – ich denke mein Herz wächst jedes Mal ein Stück mit. Und wenn sie doch mal vergessen sollten, was für Profis sie auf dem Spielfeld sind, dann stehe ich liebend gern schon vor dem Game am Rand und schlage Rad, werfe die Pompons hoch und mach den Wildcat-Tanz. Ich erinnere sie an vorangegangene Siege, denn das machen sie auch bei mir. Wir nehmen uns Zeit um stehen zu bleiben und durchzuatmen, damit man sieht, welch steiniger Weg hinter einem liegt. Damit man bestaunen kann, was man schon erreicht hat. Ja, staunen. Das tun wir Menschen glaube ich auch zu selten. Wir bleiben nicht mehr oft stehen und bestaunen den Himmel, wie er vom Sonnenuntergang orange betupft wird, wir hetzen nach Hause vor den Fernseher. Wir verweilen nicht lange vor einem alten Haus, dessen große Fenster den Blick auf wunderschönen Stuck preisgeben. Nein, wir eilen zur Arbeit, in der Hoffnung irgendwann den Altbau bezahlen zu können, um dann eine stuckbesetze Decke zu haben, die wir nie sehen, weil wir nur arbeiten. Wir atmen viel zu selten im Stadtwald durch und bewundern die unfassbare Unendlichkeit der Natur und ihrer Gabe, die Farbe Grün millionenfach darzustellen. Moosgrün, grasgrün, waldgrün, tannengrün, ichweißnichtwelchepflanzennochallesgrün. Einfach der Wahnsinn. Kein Spaß. Mein Patenkind wird bald zwei Jahre alt. Er zeigt mir seit seiner Geburt, was Staunen bedeutet. Er erinnert mich daran, dass es wahnsinnig aufregend sein kann, dass Wasser aus einem Wasserhahn fließt – und ich das sogar kontrollieren kann. Oder wie spannend ein Flugzeug am Himmel doch ist, obwohl ich selbst schon so oft in einem saß. Natürlich erfasst sein süßer Kopf noch nicht die Technik, die Physik dahinter. Aber er erinnert mich daran, dass ich die Arbeit, die Entwicklung, die Konstruktion, die Möglichkeit erkenne und ich einen Moment innehalten sollte, um es zu bestaunen. Um es wahrzunehmen und zu sehen, was diese Welt mir bietet. In allen Bereichen, nicht nur in dem der häuslichen Sanitäranlagen und fliegenden Transportmitteln. Eben auch in meinem Leben, in dem der anderen. In der Natur. Überall gibt es die Chance, zum Staunen. Zum Zujubeln. Zum Gönnen und positiv neidisch sein. Zum Freuen für andere. Gönn dir, Brudi. 

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Kommentare: 1
  • #1

    Selena Romez (Sonntag, 06 September 2020 02:38)

    Das hast Du wunderschön beschrieben, Brudi.