Leben im Korsett

Ich werde des Öfteren gefragt, was mir die Therapie bringt. Es wird nicht bezweifelt, dass sie mir weiterhilft, aber das Wie ist für viele nicht nachvollziehbar. Das gönne ich ihnen natürlich, im besten Fall heißt das ja, dass sie keine Probleme wie einen Drachen oder ein Monster oder einen Wolf in sich wohnen haben. Ich antworte dann, dass die Selbstreflexion das wichtigste für mich ist. Verstehen, wieso ich heute so handle, wie ich es eben tue. Und ich bin zwar klug und auch recht cool (heute ist ein guter Tag), aber so cool bin ich dann leider doch nicht, dass ich diese Selbstreflexion ganz alleine schaffe. Heutzutage brauche ich dafür zwar weniger Zeit und nicht mehr ganz so viel Hilfe, aber allein klappt es nicht. Und damals in der Klinik war ich ein totaler Newbie. Ich dachte in der ersten Woche, alle Mitpatienten sind viel schlimmer dran als ich und das gesamte medizinische Personal hat nicht mehr alle Latten am Zaun. Stimmte vielleicht, änderte aber nichts daran, dass auch ich dort auf der Station merkte, wie mein Drache ruhiger wurde. Ich war also zumindest schon mal nicht fehl am Platz. Was mir die Stationsschwestern, der Psychologe und die Mitpatienten alle gemeinsam spiegelten, war meine Kontrolle über mich selbst. Dass ich so straight mit allem umgehen konnte wurde mir als Stärke nachgesagt. Aber genau diese Kontrolliertheit, dieses Verbissensein, hatte mich ja erst zu einer von ihnen gemacht. So ganz supidupi kann das also doch nicht sein. Oder? Aber ich konnte sie nicht ablegen. Ich habe gesehen, dass es mir nicht gut tut, mich durch Dinge durch zu quälen, habe den Unterschied gesehen, mit dem ich andere beurteile und dann mich selbst. Aber ich konnte mich anstrengen, wie ich wollte, die fast schon manische Kontrolle über mich, mein Leben, meinen Körper wollte ich nicht abgeben und so drängte ich mich selbst von jeglichen neuen Wegen ab. Und zwar von allen Seiten. Ich engte mich selbst ein mit dem unwiderstehlichen Drang, alles richtig zu machen, alles zu geben, egal bei was. Und dann sprach ich das erste Mal in der Gruppentherapie. Ich sprach über mein Korsett. Mein orthopädisches Korsett, welches ich tragen musste, um nicht im Rollstuhl zu landen. Meine Eltern hatten diese Entscheidung für mich getroffen, damals, als der Arzt sagte „Es ist absehbar: ohne Korsett-Behandlung wird Ihre Tochter in ein paar Jahren im Rollstuhl sitzen, weil die Krümmung und die Drehung der Wirbelsäule Auswirkungen auf Muskeln, Sehnen und Nerven haben werden.“ Meine Eltern wurden zu einer Entscheidung gezwungen bei der es hieß „Pest oder Cholera“. „Hillary oder Trump“. Und natürlich entschlossen sie sich für die weniger beschissene Option, ihrer Tochter ein paar Jahre eine motorische Stütze zu geben, statt ihre Fähigkeit des Laufens langsam aber stetig in Schall und Rauch aufgehen zu lassen. Wer könnte es ihnen verübeln. Ich nicht. Ich bin so dankbar, dass sie diese Entscheidung auf sich nahmen. Jetzt, heute, mittlerweile bin ich dankbar. Damals.. Damals war ich gelähmt. Korsett? Was ist das?, frage ich den Arzt. Er zeigt mir einen Eintrag aus einem medizinischen Lexikon. Die Frau sieht gar nicht traurig aus. Sie sitzt, der Kamera den Rücken zugekehrt, im halben Schneidersitz und schaut zur Seite. Keine Tränen, denke ich. Kann also nicht so furchtbar werden.
Mit zwölf Jahren, kurz vor der Pubertät, bekomme ich also eine Gerätschaft an den Körper angepasst, die mir nicht nur das Atmen erschwert sondern auch schmerzt. Ja richtig weh tut, an den Stellen, an denen es wehtun muss, damit sich mein Körper in die entgegengesetzte Richtung bewegt. Cool, danke Mum, danke Paps. Die beste erwartete Entwicklung war zumindest eine Stagnation der Krümmung. Keine Verschlechterung, das war der Plan. Mit Verbesserung rechnet man da erstmal nicht. Man will ja keine falschen Hoffnungen machen. Außerdem war ich noch voll im Wachstum. Und der Körper verändert sich generell sehr stark in der Pubertät. Mal abwarten.
Nach fünf Jahren kam die Erlösung. Viel früher als gedacht, ich war zwischen 14 und 16 so viel gewachsen, wie andere bis zu ihren Zwanzigern. Wahnsinn, was ich alles kann.
Aber was passierte in diesen fünf Jahren? Ich ging zur Schule, hatte Verabredungen, sogar meinen ersten Freund. Und ich trug das Korsett. Mama und Papa werden jetzt schmunzeln, denn ich trug es ehrlicher Weise nicht lange genug. Vorgegeben waren 23 Stunden am Tag, morgens und abends 30 Minuten Duschpause. Yay. Anfangs hielt ich mich daran. Aber was will man einer pubertierenden Teenagerbestie schon groß sagen? Noch dazu einer, die eh nur das macht, was sie für richtig hält. Aber, liebe Mama, lieber Papa, glaubt mir, ich habe es wahrscheinlich mehr getragen, als ihr es mir zutrauen würdet. Denn auch ich hatte Angst vor den Folgen. Vor dem Schmerz, vor dem Taubheitsgefühl in den Beinen, das ich schon kennenlernen durfte. Musste? Auch ich hatte die Hosen voll vor dem nächsten Arzttermin, vor dem nächsten Röntgenbild. Aber was hätte es gebracht, sich dem Schicksal einfach so zu ergeben? Genau wie ihr habe ich gewusst, das nur ein Weg am Rollstuhl vorbeiführt: Das Korsett. Wie auch ihr euch gefragt habt, ob man es hätte anders machen können, fragte ich mich jeden Tag, was genau in meinem Leben so schief laufen konnte, dass ich mich wie ein menschlicher Kühlschrank fühlen musste. Denn das war es: Ein unbeweglicher, starrer Klotz um meinen Oberkörper, der mir keine engen Shirts erlaubte und mich daran hinderte, die hormongesteuerte Verwandlung meines eigenen Körpers zu beobachten. Das Bild in dem Lexikon war eine lächerliche Abbildung eines schmalen Kunststoffirgendwas gewesen, das fast nichts mit meiner Art von Korsett zu tun hatte. Auch Sitzen und Stehen und Laufen und Liegen war scheiße. Nichts da mit Schneidersitz easypeasy bisschen abhängen. Alles war scheiße. Und ich war so wütend. Ich wollte traurig sein aber was nützten mir die Tränen, wenn sie nicht alles heilen konnten. Was nützt mir das Miesfühlen, wenn es dadurch nicht aufhört, weh zu tun. Und wenn man nicht traurig sein möchte, dann ist wütend – vorerst – eine gute Alternative. Nur auch die Wut machte es nicht ungeschehen, dass mein Rücken mir und meinem Teenagerdasein einen Strich durch die Rechnung machte. Und zwar ganz gewaltig. Also hieß es, Arsch zusammenkneifen und durch. Ich musste damals diesen Schutzmechanismus anwenden, diesen Riegel vorschieben, bevor all die Emotionen explodierten und mich zu dummen Taten oder schlimmen Worten angestiftet hätten. Und es war gut so. Denn nur so konnte ich das durchstehen. Wie auch ihr, Mama, Papa. Ich weiß, dass ihr damals machtlos wart gegen die Biologie, dass ihr mit mir gestritten habt, weil ihr selbst nichts tun konntet. Ihr konntet nur stark sein, euch nichts anmerken lassen, im Stillen leiden und bei mir Strenge walten lassen. Wir saßen alle im selben Boot und hatten alle keine Paddel dabei, nur Trillerpfeifen und Warnwesten. Oder Warnkühlschrankkorsetts. Und so mussten wir dadurch, alle drei, alle auf unterschiedliche Art und Weise. Sonst wären wir alle drei so richtig verrückt geworden.
Und da lernte ich die Verbissenheit. Die Strenge mit mir selbst. Ich brauchte sie, um nicht verrückt zu werden. Um nicht unterzugehen. Aber ich musste es so furchtbar schnell und auf eine wirklich harte Art und Weise lernen. Ich hatte keine Zeit, um darüber nachzudenken, ich tat es, zog es durch. Und dann wurde es zu meinem Ding, es durch zu ziehen. Alles durchziehen, kein links, kein rechts mehr. Und ich engte mich ein, legte mir eigens die Schlinge um den Hals und führte mich nach vorne. Aber irgendwann habe ich vergessen, verdrängt, verlernt, dass ich den Strick in der Hand halte. Ich war so konform mit dieser Verhaltensweise, dass mir nicht mal auffiel, dass ich es war, die loslassen musste.
Das habe ich bei der Therapie gelernt. Dadurch kann ich mein Verhalten spiegeln. Ist es heute noch angebracht, alte Ängste zu haben? Muss ich heute so verbissen sein, weil ich es früher schon war? Darf ich heute anders sein? Ich muss. Denn ich trage das Korsett nicht mehr. Ich kann frei atmen, spüre meine Beine, komme mit den Rückenschmerzen klar. Ich habe die Zeit überwunden, in der ich weder Trauer noch Wut empfinden wollte, um nicht daran zu ersticken. Und ja, ich musste es nachholen, das Traurigsein. Und der Wut ganz klar sagen, dass sie heute nicht mehr dazugehört. Dass sie zur kleinen Kiki gehört und nun gehen kann. Dass es okay ist, dass sie sich gezeigt hat, aber jetzt eben wieder abdampfen kann. Denn ich trage das Korsett nicht mehr. Ich bin jetzt frei. 

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Kommentare: 1
  • #1

    Y.Schneider (Donnerstag, 28 März 2019 20:51)

    Wow dieser Beitrag ist so befreihend ich bin 15 Jahre und trage seit anfang meines 15. Lebensjahres ein korsett. Ich hasse dieses höllenteil und ich trage es zu selten in ca einem Monat habe ich einen termin beim Arzt. Desshalb versuche ich mich nun zu überwinden und diese Foltermaschiene die vorgegebenen 23 Stunden am tag zu tragen �. Meine Freunde und vorallem mein Freund haben damit überhaupt kein Problem, Aber Ich . Wie du es beschreibst ist wirklich alles unbequem und man fühlt sich einfach nur umwohl egal was man macht und so kann ich die letzten jahre meiner Kindheit wirklich nicht genießen. Mein Beileid an alle die auch eins haben.