Generation Heulsuse

Am 05. Januar diesen Jahres habe ich meinen Drachentext, den Ursprung des LachenLohntSich-Blogs, bei Facebook gepostet. Davor habe ich eigentlich auch nie ein Geheimnis aus meiner Erkrankung gemacht, wenn mir bis dahin jedoch die richtigen Worte dafür fehlten. Mein Bruder sagte mal zu mir, dass er es seltsam findet, wie offen ich damit umgehe. Nicht unbedingt negativ, aber es würde ihn wundern, denn solch persönliche Informationen gingen ja nicht jeden etwas an. Und so ist mein Bruder auch mit anderen Dingen, die passieren oder die er erlebt. Er erzählt es selten und wenn doch, dann nur einem kleinen Kreis von Auserwählten. Er trägt sein Herz nicht auf der Zunge. Ich gebe unheimlich viel auf die Meinung meines Bruders und so machte ich mir damals viele Gedanken, ob es falsch sein könnte, so offen von meinen Depressionen und meinen Symptomen zu berichten. Und auch als ich ein paar Jahre später den Blog und meinen Youtube-Kanal begann sprach er seine Meinung dazu offen aus. Aber er sagte auch, wie cool er es findet, dass ich so freizügig mit dem Thema umgehe. Auch meine Eltern waren – und sind – sehr stolz auf mich. Dennoch begleitet sie die Angst, dass irgendjemand meine Krankheit, meine Ängste, gegen mich verwenden könnte. In vermeidliche Anonymität gehüllt bietet das Internet jedem Deppen einen Platz, um seine eigene Miesmutzeligkeit durch dissen, mobbing, shaming und..vielleicht noch ein deutsches Wort? …beleidigen zu kompensieren. Und auch ich habe davor manchmal Schiss. Dann liege ich abends im Bett, meine Gedanken kreisen und die Panik überkommt mich: Ich Trottel! Ich hab echt der ganzen Welt erzählt, dass ich mich selbst manchmal richtig scheiße finde, habe persönliche Erlebnisse, Ängste, Gefühle, total offen und sehr detailliert beschrieben. Und das alles mit meinem Gesicht dazu! So gar nicht anonym! Was, wenn mein späterer Arbeitgeber das liest? Was, wenn jemand beim nächsten Wiedersehen Witze macht, mich angreift? Vielleicht verdreht auch jemand Tatsachen, erschließt sich mit viel Phantasie gefährliche Halbwahrheiten und verbreitet sie? Wie denken verflossene Liebschaften, Arbeitskollegen, Kommilitonen über mich? Und jaa, jeder sagt jetzt „Scheiß‘ drauf! Egal, was andere denken, mach dein Ding!“ Und jaa, sie haben Recht. Ihr habt Recht. Aber jeder hat doch diese Momente, in denen einem alles überm Kopf zusammenbricht und das „Scheiß‘ drauf!“ zu einem „Fuuuuck“ wird. Oder? Einmal habe ich übers Wochenende meinen YT-Kanal und meinen Blog offline gesetzt. Ganze 48 Stunden war ich die Kiki vor dem 05.01.2018. Und keinem ist es aufgefallen! Was eine Erleichterung! Klar, ist schon auch ein bisschen kacki, dass es niemanden gab, der aufschrie und nachhakte. Aber es war wirklich beruhigend zu wissen, dass ich keinen Stempel auf der Stirn trage. Es hat mir auch Sicherheit gegeben, dass ich die Offenheit zurücknehmen kann. Weil wenn es keine Videos gibt dann kann auch kein Arbeitgeber wissen, dass ich über Depressionen quatsche und versuche aufzuklären. Aber dann direkt der nächste Schock: Das Internet vergisst nie! Und der ganze Kram ist schon so lange online, die Welt ist ein Dorf, über sieben Ecken kennt jeder jeden, und vielleicht hat es ein potentieller Arbeitgeber schon gesehen und stellt mich jetzt deswegen nicht mehr ein und vielleicht hat es jetzt auch jeder meiner Liebsten mitbekommen und einer von denen hasst mich deswegen ganz furchtbar…STOP. Kiki, beruhig dich. Atme. Man unterschätzt die beruhigende Wirkung von Atmen immer aber in solchen Momenten erinnere ich mich doch daran. Dreimal. Ganz. Tief. Durchatmen. Was, wenn es jemand gelesen hat und damit nicht… nicht was? Einverstanden damit ist? Es nicht versteht? Es ihn nicht interessiert? So what. Ahja: scheiß‘ drauf. Weil: Jaa, ihr habt Recht. Kurz am Rad drehen ist okay, aber dann wieder fokussieren: Wieso tue ich das eigentlich? Wieso fühle ich mich, als hätte ich der Welt gegenüber eine Verpflichtung? Wieso fühle ich, dass ich meine Leidenschaft fürs Schreiben damit kanalisieren möchte, indem ich über meine Depressionserkrankung berichte? Weil ich merke, wie gut es tut, offen damit umgehen zu können. Es ist so eine verdammt hammermegageile Erleichterung, Leidensgenossen oder verständnisvolle Mitstreiter an seiner Seite zu haben. Und weil ich seit Beginn des Blogs merke, wie viele Menschen in meinem Umfeld auch betroffen sind – als was auch immer. Aber ich tue all das auch, weil ich nicht nur gute Erfahrungen gemacht habe. Seit meiner Klinikzeit habe ich sehr, sehr oft folgenden Satz gehört:
Früher hatten wir gar keine Zeit, um über so etwas nachzudenken.
Wenn ich das höre könnte ich im Strahl kotzen. Ja, ich gehöre der „Generation von Heulsusen“ an. (Kein Scheiß, das hab ich schon zu hören bekommen.) Aber seltsam, eine Studie der WHO besagt, dass mehr ältere  Menschen an Depressionen leiden als das junge Volk. In your face. Also wenn schon dein Vokabular, alter Mann, der mir nicht geglaubt hat, dass Depressionen keine Erfindung der Pharmaindustrie sind, dann wohl: Zeitalter der Heulsusen. Und ja, heutzutage hat jeder gleich ein Burn-Out und geht zum Seelenklempner, na und? Wir haben heute die Zeit, um uns um uns selbst zu kümmern. Wir haben das Wissen, dass neuronale Störungen zu Gefühlsveränderungen führen können. Wir wissen mittlerweile, dass das Innenleben eines Menschen aus mehr besteht, als nur aus Knochen, Muskeln,  Gewebe und diesen fassbaren Dingen. Wir fahren ja heute auch nicht mehr mit der Kutsche in die Stadt. Und du musst deine olle Hüfte auch nicht mehr versteifen lassen, du bekommst ein neues Gelenk, Spezialanfertigung des 3-D-Druckers. Heutzutage kann man sich übrigens Videos von seinen Enkeln immer und immer wieder angucken. Just saying.. Willkommen im Jahre 2018, alter Mann. Es ist doch schön, dass Menschen mit Panikattacken nicht mehr dem Exorzisten vorgeführt oder in Heime gesperrt und gefesselt werden müssen. Wir entwachsen dem Zeitalter der Fließbandarbeit, in dem wir wie Maschinen arbeiten mussten, um unsere Konsumgier zu stillen, mittlerweile haben wir richtige Maschinen dafür. Das bedeutet nicht, dass wir nicht hart arbeiten müssen, nicht dass jeder immer die Möglichkeit zum Anhalten seiner Welt hat. Aber es gab Menschen, die es konnten – und taten. Die den Hammer niederlegten, die die Handschuhe auszogen und Zeit fanden, sich Hilfe zu holen. Und andere taten es ihnen nach. Weil sie merkten, dass es sich lohnt.
Ich finde es gut, dass sich immer mehr Menschen einen Therapeuten nehmen als einen Strick. 1980 sind 18.451 Menschen in Deutschland durch Suizid gestorben. 2015 waren es 10.00. Die Prävention, die Therapiemaßnahmen, alles verändert sich, bemüht sich um Entwicklung. Und eben auch der Umgang, die Kommunikation. Und dafür stehe ich gerne, das fühlt sich für mich richtig an. Und darum geht es ja, das zu tun, was sich richtig anfühlt, egal was die anderen sagen. Und mit den Konsequenzen zu leben, ein Ding des Erwachsenwerdens. Ich möchte an dieser Stelle nochmal kurz anmerken, dass Männer häufiger Selbstmord begehen. Das ist auch etwas, für das ich stehe: Dass Männer auch das Recht bekommen, seelische Leiden als Erkrankung zugestanden zu bekommen und nicht als Schwäche. Ich erlebe es im eigenen Bekanntenkreis, dass Frauen es leichter haben, offen mit diesem Thema umzugehen. Die Gesellschaft braucht für die Gleichberechtigung der Geschlechter ja bekannter Weise in jeder Hinsicht noch ein paar Jahre. Aber vor allem braucht sie Mut. Mutige Menschen, die aufstehen und sagen Ich bin auch betroffen, ich kenne das, ich bin wie du.“ Und wenn es das einzige ist, das uns verbindet. Von mir aus gehöre ich gerne der Generation Heulsuse an, wenn das bedeutet, dass es andere dann leichter haben. Wenn das bedeutet, dass jemand dadurch auch mutig sein kann und sich Hilfe holt, sich helfen lässt, diesen Kampf nicht unbewaffnet führen zu müssen.
Meinetwegen, call me Heulsuse. 

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