Ein Schleier in wutrot

 

 

„Energie kann weder erzeugt noch vernichtet werden. Sie kann nur von einer Form in andere Formen umgewandelt oder von einem Körper auf andere Körper übertragen werden.“  

Hermann von Helmholtz (1821 – 1894)

 

 

Als ich das erste Mal von jemand professionellem gefragt wurde „Wie waren Sie denn so als Teenagerin?“ kam wie aus der Pistole geschossen „Wütend.“ Denn in meiner Erinnerung liegt über den wilden Jahren zwischen 13 und 18 ein roter Schleier, der ganz in Wut auf mich, meine Eltern, Ärzte, Klassenkameraden und die Welt getränkt über mir und meinem Dasein lag. Dass ich Gründe für diese Wut hatte gestehe ich mir heutzutage zu. Durchanaylisiert und fachlich begutachtet weiß ich, dass die Wut ein anderes Gefühl bei mir überdeckt hat. Die Trauer. Während die Trauer nämlich jammernd in Embryostellung unterm Tisch lag und sich im (berechtigten) Selbstmitleid suhlte, ist die rasende Wut durch die Welt gepoltert, hat sich Luft gemacht in vernebelten Partynächten, stundenlangem Bedienen und Betütteln verwöhnter Gäste und im stets mit dem Kopf durch die Wand wollen. Sie hat rumgeschrien und Streit angezettelt, die Trauer lag nur rum und hat geheult. Aber wenn die Wut laut genug war, dann musste ich mir das Geschniefe und die vielen Tränen gar nicht mehr geben, dann konnte ich dieses verletzliche Etwas in mir ignorieren und mich vom vor Energie nur so strotzenden Tornado der Wut mittragen lassen, wo auch immer sie hin wollte. Dass die Trauer sich durch meine Ignoranz nicht aufraffen und Ruhe geben würde war mir damals nicht bewusst und wäre es mir heute auch nicht, wenn ich das alles nicht Schritt für Schritt bei vielenvielenvielen Therapiestunden hätte selbst aufdecken dürfen. Wut ist so ein schönes Gefühl, es trägt dich weiter, sie ist aktiv, nicht passiv. Sie ist Energie, die man sogar nutzen kann. Sie kann veranlassen, dass mit Hilfe körperlicher Bewegung die Energie umgewandelt wird. Sie kann dir Antrieb geben für ein neues Projekt, um dir Metaphern oder Bilder einfallen zu lassen. Wut ist stark, sie ist auf deiner Seite. Du hast in den besten Fällen sogar einen Schuldigen, der dein loderndes Wutfeuer in dir immer wieder aufflammen lässt, damit du dich wieder reinsteigern kannst und die Wut lauter wird und die Trauer leiser. Denn Trauer ist so verletzlich. Traurig sein bedeutet weich sein, etwas an sich ranlassen. Wütend bedeutet kräftig, sie versetzt Berge, schlägt Peinigern ins Gesicht, rächt sich an Ex-Partnern. Sie treibt dich an. Trauer hängt schluchzend an deinem Bein, wie ein klebriger Riesenkaugummi, der dich im Kampf ums Überleben langsam und verletzlich macht. Nur ist Wut kein Ersatz für Trauer. Man kann sie vielleicht nutzen, um die Wunden heilen zu lassen. Das aber nur im Bewusstsein, dass man sich der Trauer ein Stück weit zuwenden muss, um das Heilen in Gang zu setzen. Ignorieren ist nicht. Man muss sich ihre Existenz bewusst machen – bin ich gerade vielleicht viel eher traurig als wütend, habe aber Angst dies zuzugeben vor anderen? Vor mir selbst? - Die Wut hilft dann über den Zeitraum hinweg, den man braucht, um unter der Oberfläche zu trauern, um den Berg aus allem Angreifbaren abzubauen und das loszulassen, was einen so traurig macht. Trauer kann nur durchgangen werden. Man muss sie einmal wirklich spüren, damit sie verblasst. Bei manchen geht sie nie ganz, egal weswegen. Todesfälle, verpasste Chancen, so etwas kann vielleicht nie ganz von Trauer befreit werden. Muss auch nicht sein, denn wenn die Trauer nur noch ab und zu Tränen in den Augen trägt, wenn ihr seltener das Herz schwer wird, dann muss man sich nicht davor fürchten, in ihr zu versinken. In all ihren Schichten zu ertrinken. Dann ist man stark genug, um sich über Wasser zu halten und sie Trauer sein zu lassen.
Und Wut ist auch kein eindimensionales Gefühl, sie hat so ihre Tücken. Sie ist nicht nur ein Gefühl, sie ist auch eine Gewohnheit. Oft wird sie zur sekundenschnellen Antwort, weil man schon so oft und über so viel wütend war, dass man sich in ihr Zuhause fühlt. Und wenn sie doch mal richtig am Platz ist, und nicht als Ausweichgefühl für ein anderes Gefühl genutzt wird, dann muss man auch sie zulassen und nachspüren. Es liegt in der Natur des Menschen, dass man wütend aufeinander ist. Das Hinterlistige der Wut ist aber, dass sie oft feige ist. Sie ist feige, weil sie bei der Schuldfrage sehr gerne Realitätsverweigerer spielt. Richtet sich die Wut gegen mich selbst? Geben wir lieber jemand anderem die Schuld, das entlastet mich. Bin ich wütend auf jemand anderen? Meinen Chef? Lasse ich es doch an meinen Freunden raus. Die Wut kann toben, ich verliere nicht meinen Job. Wenn die Wut aber nicht dort rausgelassen wird, wo sie hingehört, dann wird sie auch nicht gehen. Denn anspruchsvoll ist sie auch, sie bekommt ihre Befriedigung nur durch das richtige Ventil. Also müssen wir uns wohl oder übel dem stellen, was uns wütend macht. Denn die Wut wird bis zu dem Tag triggern und an falschen Stellen explodieren, an dem wir es schaffen, unserer Wut an der richtigen Stelle Luft zu machen. Wut kann uns helfen, die Trauer erträglicher zu machen. Sie kann sie aber nicht ersetzen, sonst wären es keine eigenständigen und voneinander unabhängigen Gefühle. Und wer will schon einen vollgeschnodderten Haufen Trauer bei sich hausen haben, während ein wutentflammter Wirbelwind durch das Haus tobt und man sich aus Angst vor Scherben und durchschlagenen Mauern überfordert der Resignation hingibt? Sich zur Trauer legen und in Selbstmitleid ertrinken? In den Wirbelwind springen und aufs Beste hoffen? Wieso nicht die Sache selbst in die Hand nehmen? Trauer und Wut erkennen, sie anerkennen. Wir leben im Zeitalter des Umdenkens, ständig soll man irgendwas besser machen. Wieso nicht das eigene Leben besser machen und Gefühlen Raum geben, damit sie danach für Balance sorgen. Sei wütend, mach deinem Ärger Luft. Sei traurig, das ist keine Schande. Aber vor allem: Sei nicht wütend statt traurig. Ersetze nicht das eine Gefühl durch das andere. Bilde dir nicht ein, du könntest erhaben über das Menschsein sein. Ich bin es nicht und du auch nicht. Und das ist doch auch etwas beruhigend, oder? Dass man in dieser Hinsicht mal niemanden kennt, der es besser kann. Zumindest nicht, wenn alle ehrlich sind.

 

 

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