Volle Panik auf der Titanic

Seit neun Jahren wohne ich mittlerweile nicht mehr bei meinen Eltern. Nicht mehr bei Mama, nicht mehr bei Papa. Nach dem Abi direkt in die WG mit den coolsten Jungs, danach Studentenwohnheim, dann zweieinhalb Jahre partnerschaftliche Wohngemeinschaft im Hasenbau. Aber dann musste sich etwas ändern. Weil ich mich geändert habe. Ich bin jetzt ein bisschen anders, Kiki 2.1 vielleicht, vielleicht auch schon 2.2. Meine Bedürfnisse haben sich geändert, unbewusst hat sich der Wunsch nach den eigenen vier Wänden in mir breitgemacht, bis mein Drache ihn mir dann vor die Füße spuckte. Und dieses Bedürfnis wurde zu einem Ersehnen, ich wusste, es wird unausweichlich. Und nach langer Suche, unendlich vielen Absagen, nach Hochs und Tiefs aus Hoffen und Verzweifeln fand ich einen Platz. Die Bonner Südstadt war vierzehn Jahre für mich der Stadtteil, mein Zuhause, meine Hood. Und nach genauso langer Zeit nimmt sie mich wieder auf, lässt mich ihren Altbaucharme und ihre Gartencarrés genießen. Das Campieren bei Mama vor dem endgültigen Einzug in mein neues Reich fand an einem Montag ein Ende, ich putzte bei ihr meine Anwesenheit hinfort, fuhr zu mir nach Hause und verbrachte einen entspannten Abend mit Tommy auf meiner frisch gekehrten Terrasse. Nachdem er ging, schloss ich die Tür ab.

 

Flashback.

 

Ich nehme meinen Schlüsselbund in die Hand und sehe die Schlüsselkombo, mit der ich die letzten zwei Wochen bei Mama ein- und ausgegangen bin. „Euch brauche ich ja jetzt nicht mehr“ denke ich und breche mir fast die Finger beim Auseinanderziehen des Schlüsselrings. Jetzt sind nur noch mein Haus- und Wohnungstürschlüssel an dem Anhänger, der das Wort „Goldstück“ trägt. Er ist von Michi, ich liebe ihn. Und sie.

 

Mit warmen Gefühl im Bauch setze ich mich aufs Bett und greife nach meinem Handy.
Und da fange ich Feuer. Abermillionen brennende Ameisen krabbeln unter meiner Haut und die Wärme in meinem Bauch ist innerhalb von Sekunden zu einem Vulkanausbruch geworden. Alles in mir steht unter Strom, in meinem Kopf klingeln sämtliche Alarmglocken. Es ist mir so schlagartig klar: Jetzt, hier, an diesem Ort, zu diesem Zeitpunkt findet mein junges Leben ein Ende. Ich weiß in diesem Moment, dass ich sterben muss. Oder sagen wir, 99% von mir wissen es. Meinen es zu wissen.  Denn da gibt es dieses eine Prozent, es ist ganz verschreckt und fast nicht hörbar bei all diesem Lärm und der Gewissheit, den Abend nicht zu überstehen. Aber es ist da. Und mit erstickter Stimme ruft es mir zu „DAS IST EINE PANIKATTACKE! DAS. IST. EINE. PANIK. ATTACKE!!!!“

 

Ich verkrampfe total, fange an zu schwitzen und gleichzeitig zu zittern. In meinem Kopf ist nur noch Gulasch. Minutenlang verharre ich in Kauerstellung auf dem Bett, meine Arme um die angezogenen Knie geschlungen, nehme mir selbst die Luft zum Atmen aber sehe eh‘ keinen guten Grund, wieso atmen jetzt gerade noch wichtig wäre.

 

Meine Gedanken rasen, das Klingeln ist zu einem schrillen Pfeifen geworden und das Brennen fühlt sich eher an, als würde mir die Haut abgezogen. Ich weiß, wen ich jetzt anrufen muss. Ich bete, dass sie rangeht. Jeder einzelne Warteton fühlt sich an wie ein Hammerschlag in die Magengrube. Sie hebt nicht ab, ich lege auf. Das war’s wohl. Ich weiß, dass ich keine Kraft habe, nochmal jemanden anzurufen. Nochmal den Mut aufzubringen, jemandem zu sagen „Ich glaube ich muss sterben“ scheint unerreichbar.

 

Ich warte, hocke versteinert da. Alles dreht sich um mich herum und gleichzeitig fühlt es sich an wie endloses Fallen. Ich stecke in einem Strudel. Irgendwann schaue ich auf meinen Wecker neben dem Bett, es ist kurz vor 0 Uhr. Fünf vor zwölf sozusagen. Ich rufe die einzige Person an, bei der ich mir sicher bin, dass sie noch wach ist. Mein Bruder nimmt ab. Lebensretter. „Kleinii, ist schon spät!“ Ich bin so erleichtert, Rotz und Wasser bahnen sich ihren Weg. Ich spüre wie er am anderen Ende der Leitung binnen Sekunden hellwach ist. „Wo bist du? Was ist passiert? Ich komme sofort vorbei!“ Seine Besorgnis beruhigt mich, ich bin nicht allein. Aber direkt die nächste Panik: Wenn er vorbeikommt werde ich für immer jemanden brauchen, der zu mir kommt, wenn es mir schlecht geht. „Toxischer Coping-Mechanismus!!“ Dieser Gedanke kommt von dem einen Prozent, das noch nicht wahnsinnig ist. Ich versichere Tobi, dass mir das Telefonieren hilft, erzähle zuerst nichts von der anhaltenden Todesangst, schiebe mein emotionales Durcheinander auf die Angst, mich im neuen Heim nicht wohlzufühlen. Insekten jeglicher Art und Größe nennen mein Zuhause auch ihr Zuhause und man kommt mit dem Einfangen und Freilassen gar nicht hinterher. Wie absurd. Als wäre das ein wirkliches Problem. Aber in diesem Moment der absolut irrationalen Angst zu sterben, die durch die erste wirkliche Panikattacke in meinem Leben ausgelöst wurde, brauchte ich etwas Rationales, einen Grund, wieso ich grade am Rad drehe. Und Tobi nimmt mir diese Alibiangst, schickt mir Links zu Fliegengittern und erzählt von der bewundernswerten Artenvielfalt, die ich jetzt zur Nachbarschaft zähle. Und wir telefonieren zweieinhalb Stunden mit Unterbrechung, weil mit nachlassender Panik die Angst des Drachens in mir randaliert, weil er das alles so gar nicht einordnen kann und er mir seine Unsicherheit in die Schuhe schiebt. Einfach zum Kotzen. Aber irgendwann finden wir Ruhe, können einschlafen und uns von dieser Achterbahnfahrt ohne Sicherheitsgurt erholen.

 

Einige Jahre setze ich mich nun mit meinen Gefühlen, meinen Bedürfnissen und Ängsten und mit meinem Körper auseinander. Noch nie hatte ich bisher eine derartige Panikattacke, also habe ich mir Hilfe gesucht, mit alten Hasen der Angststörung gesprochen und eine Verhaltenstherapeutin aufgesucht. Fairer Weise muss ich sagen, dass mir die Therapeutin keine großartigen Tipps gegeben hat – weil ich aus Intuition und Erfahrung heraus die richtigen Maßnahmen getroffen habe, mir in dieser Ausnahmesituation selbst zu helfen. Jemanden anzurufen war das Beste, meinen Bruder als Plan B zu wählen das Richtige.

 

Nach Gesprächen mit Meister H. bin ich mir relativ sicher, dass die Abnabelung von meinem Ich, das immer jemanden bei sich und um sich hatte, der Grund für diese heftige Panikattacke war. Es gibt Studien darüber, dass bei Menschen- und Tierbabys beim Trennen von den Müttern die gleichen Hirnareale arbeiten, wie bei Panikattacken. Es blieb nicht bei der einen Panikattacke, aber die Abnabelung vom geteilten Heim, das Aufbrechen in eine ganz neue Art des Alleinseins ist ja auch kein Zuckerschlecken. Mich hat es nur überrascht, dass ein von mir so lang ersehnter Wunsch in Erfüllung geht und meine erste Reaktion irrationale Todesangst bedeutete. Mit der wissenschaftlichen Erklärung dahinter für mich jedoch nachvollziehbar. Auch alte Hasen wissen noch nicht alles (hehe). Mit jeder Panikattacke habe ich mehr gelernt, mir selbst zu helfen. Die letzte dauerte ca. fünf Minuten – ich bin also wirklich gut darin geworden.

 

Wenn dieser hinterlistige, stachelige Dämon in mir aufkommt und mir die Luft abschnürt hilft mir Bewegung. Ich zeige mir, meinem Körper, der Panik, dass ich lebe, frei bin, nicht gefangen und machtlos. Frische Luft auf der Haut verstärkt dieses Gewahrwerden des am Leben Seins. Aber auch eine ernst gemeinte Umarmung von mir selber hilft. Selbstliebe, das A und O. Und dann habe ich ein kleines Mantra aus Theaterzeiten, dessen routiniertes Aufsagen Stabilität gibt, meine Gedanken fokussiert und sie vom Herumwirbeln und Abdrehen hindert.

 

A-potheke

P-potheke

O-potheke

T-potheke

H-potheke

E-potheke

K-potheke

E-potheke

 

Immer und immer wieder. Bis der Dämon gähnt, die Ameisen unter der Haut langsamer werden und die erdrückende Angst ein Wenig an Gewicht verliert. Alles. Wird. Gut.


Panikattacken sind kein Symptom von Depressionen. Jeder Mensch kann in Extremsituationen eine Panikattacke erleben und nicht jeder muss deswegen medikamentöse und/oder verhaltenstherapeutische Hilfe beanspruchen.  Ich habe mich nach drei Panikattacken dazu entschlossen, mir Hilfe zu suchen und der Profi hat mich bestärkt, meine Maßnahmen genauso zu nutzen, wie ich es intuitiv schon getan habe. Ein supergutes Gefühl.

 

Falls dir beim Lesen bewusst wird, dass dir einige oder alle der Symptome häufiger begegnen scheue dich bitte nicht, dir Rat zu holen. Bei mir, deiner Vertrauensperson, einer Person, die selbst mit einer Angststörung lebt oder andere Erfahrungen teilen kann. Panikattacken müssen nicht Teil deines Alltags sein, es gibt Wege aus dem Teufelskreis heraus. Bitte lasse dir nicht von irrationalen Ängsten den Alltag nehmen, das Leben hat viel mehr zu bieten.

 

 

 https://www.telefonseelsorge.de/

0800 111 0 111 / 0800 111 0 222 116 123

 

 

 

 

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