Ein Funken Hoffnung

Content note:
In diesem Blogbeitrag geht es ganz konkret um das Thema Suizid. Wenn du dich mit diesem Thema nicht wohlfühlst, sieh‘ bitte von der Lektüre ab, das ist mir ein großes Anliegen.
Dieser Text dient nicht dazu, suizidale Gedanken herunterzuspielen oder zu romantisieren.
Wenn das Thema Suizid mit mir in Verbindung eine Belastung für dich ist: Lies den Test nicht alleine bzw. gar nicht.
Wenn es Unsicherheiten bei Formulierungen in diesem Text gibt, bitte ich dich, mir ganz offen Fragen zu stellen, um Missverständnissen vorzubeugen.
Auch wenn ich es am Ende des Beitrages deutlich schreibe, soll auch beim Lesen selbst schon klar sein: Ja, ich hatte vor zehn Jahren suizidale Gedanken, seitdem habe ich diese aber nicht noch einmal gespürt und würde mir beim kleinsten Anflug sofortige Hilfe bei Therapeut:innen und Psychiater:innen suchen. Suizidale Gedanken sind immer ernst zu nehmen und bedürfen keiner großartigen Erklärung. Wichtig ist: Es gibt Hilfe. Suizid muss nicht der letzte Ausweg sein.


Es wird in den kommenden Zeilen viel über Übelkeit und Erbrechen geschrieben, wenn dieses Thema eine Belastung für dich ist, bitte sieh' vom Lesen ab.


Die meisten Monate des Jahres 2012 waren für mich ein Teufelskreis aus Arbeit, Übergeben, Krankschreibungen und Selbsthass. Noch bevor ich wusste, welche Gestalt meine Depression mal für mich annehmen würde, spürte ich sie als schwarze, dunkle Masse, die von meinem Herz Besitz ergriffen hatte.

Mein Körper rebellierte damals so heftig, dass ich wochenlang nur Reiswaffeln und Zwieback zu mir nehmen konnte, ich wog um die 50kg und hielt mich mit Koffein und Nikotin am Leben. Wie armselig.
Ich hatte damals ständig einen Gedanken im Kopf: So kann mein Leben nicht weitergehen. Immer und immer wieder stach er sich in mein Herz, so soll es nicht weitergehen. Und je tiefer ich in meine Depression rutschte, desto mehr wurde daraus „Ich will so nicht mehr weitermachen.“ Meine Lebensfreude war schon erloschen, der Lebenswille hing am seidenen Faden.

 

Mich bei der ambulanten Therapie zu öffnen tat mir gut, aber kurze Zeit nach den Gesprächen spürte ich den Schatten wieder. Er kroch langsam aber bestimmt an mir hoch, durchfuhr jede meiner Zellen von innen nach außen und von außen nach innen, er nahm mir die Luft zum Atmen und lähmte alle guten Gedanken. Er ließ nur noch schlechte zu.

Den Rat, in eine Klinik für einen stationären Aufenthalt zu gehen, nahm ich zwar an, aber überzeugt war ich nicht. War die dunkle Masse auch nicht. Das größte Problem für mich: Ich konnte meine Scheiße anscheinend nicht ohne Hilfe regeln. Das hat mich so wütend gemacht. Und traurig. Und das habe ich gegen mich gewendet, das war Futter für das Monster Depression, welches sich eh schon an so viel vermeintlich Schlechtem ergötzen konnte.


Den Tiefpunkt dieses Strudels aus Hoffnungslosigkeit und tiefster Abneigung gegen meine Lebenssituation erreichte ich in einer Nacht im September 2012.
Der Kennenlern-Termin in der Klinik lag einige Tage hinter mir, es war klar, dass ich dort einen Platz in den nächsten Wochen bekommen würde.
Die Angst vor dem Unbekannten trieb meinen Magen in den Schleudergang, immer und immer wieder musste ich alles an Tee und knatschiger Reismasse aus mir herauspressen, was noch nicht in den Verdauungstrakt gelangt war.
Die Übelkeit und der Würgereiz hörten nicht auf, auch als nichts mehr da war, was meinen Körper hätte verlassen können. Schweiß klebte mein T-Shirt an die Haut, ich fühlte mich wie in einer Zwangsjacke. Gefangen und wehrlos. Als auch der letzte Rest Galle seinen Weg über die Speiseröhre nach draußen fand, legte ich meinen Kopf auf die Klobrille. Wenn mich doch nur irgendjemand erlösen könnte... Ich dachte darüber nach, wie es wohl ist, in der Toilette zu ertrinken. Ich wusste, wenn ich meinen Oberkörper so weit hineinhängen lassen könnte, dass ich potentiell ertrinken würde – ich hätte keine Kraft, mich zu wehren. Ich müsste nur etwas auf den Taster stellen, damit die Spülung kontinuierlich liefe…

 

Irgendwo habe ich mal gelesen, dass man sich ohne Gewicht nicht selbst ertränken kann, da der Überlebenswille zu groß ist. Hätte ich gerade nicht über meinen Suizid nachgedacht, ich hätte wahrscheinlich gelacht. Wie grotesk denke ich jetzt, 10 Jahre später.
Aber das Gefühl der absoluten Hoffnungslosigkeit auf Besserung kann ich heute noch nachempfinden. Die Erinnerung an diese Leere wird nie verschwinden.

 

Die Gedanken ans Ertränken wurden von einer erneuten Lawine aus Würgen und Spucken durchbrochen. Ich bekam Panik, dass ich meine Eingeweide erbrechen könnte, so sehr spannten meine Rumpfmuskeln an und drückten meinen Magen gen Rachen. Ich griff zur Wasserflasche neben mir und zwängte mir drei oder vier Schluck Wasser rein, nur um sie Sekunden später wieder hinaus zu speien.
Die Tortur ging mehrere Stunden. Trinken, Würgen, Erbrechen, Weinen. Und der immer größer werdende Wunsch nach Erlösung, nach einem Ende dieser Qual.

 

Wir wohnten damals im 8. Stock, vor der Tür Steinplatten, vom Balkon ein gerader Fall. Eine sichere Kiste.

Tommy war Rettungsdienstler zu der Zeit, hat mir einige Male von Suizidvorfällen während der Schicht berichtet.

Ich würde mich noch mehr hassen, wenn er mich finden müsste.
Noch mehr Selbsthass, geht das überhaupt? Keine Ahnung, aber wer könnte mich sonst finden? Wäre es mir bei jemand anderem egal? Tommy sollte es nicht sein, das war klar. Trotzdem wollte ich sterben. Ich wollte endlich nicht mehr so leben, wie ich es gerade musste.
Noch ein Schluck Wasser, Würgen, Tränen, Kotzen.

 

Ein paar Jahre zuvor habe ich selbst erfahren, wie es ist, einen Menschen durch Suizid zu verlieren. Es war die Hölle. Das Unverständnis, dass jemand das größte Geschenk der Welt wegwirft. Nicht nutzt. Die Wut, dass der Mensch nichts gesagt hat. Die Ohnmacht, dass man nicht helfen konnte. Und trotzdem konnte ich in diesen furchtbar dunklen Stunden nun verstehen, wieso sich jemand gegen sein Leben entscheidet. 
Und mir konnte ja niemand helfen. Wie sollten sie dann traurig deswegen sein? Traurig, weil sie mich vermissen? Aber sie machten sich ja eh alle nur Sorgen, ich war eine Belastung.
Ich will so nicht mehr leben.
Noch ein Schluck. Tränen. Würgen. Kotzen.


Am liebsten würde ich eine Spritze bekommen und einschlafen. Vielleicht doch eine Überdosis Tabletten? Tommy hat mal erzählt, was für eine Sauerei das sein kann. Wäre mir das egal, wenn ich tot bin? Mir ist eigentlich alles egal.
Ich will nicht mehr leben.
Tränen, Wasser, Würgen, Kotzen.

 

Nach dem selbstgewählten Tod eines Freundes habe ich an manchen Tagen gedacht „Mensch, was hätte dich das hier erfreut.“ Oder „Schade, dass du keinen 18. Geburtstag erlebt hast, meiner war fantastisch.“ Diese konkreten Gedanken konnte ich in der Septembernacht nicht fassen. Aber hinter all dem Dreck, hinter all dem schwarzen Leid, das mein Herz umklammerte, flackerte ein ganz schwaches Licht. Darin vereint waren die Gedanken an Tommy, an meine Familie, an die Dinge, die ich vielleicht erleben dürfte, wenn ich nicht mehr so leben müsste - so gefangen.


Die ganze Nacht lang, ungefähr sieben Stunden, schwankte ich auf der Schwelle von absoluter Dunkelheit und dem Vertrauen darauf, dass das Licht irgendwann wieder heller werden würde. Ich war ehrlich gesagt viel zu schwach, um den Weg zum Balkon und über die Brüstung zu schaffen, geschweige denn an einen einsamen Ort zu kommen, an dem ich mein Leben beenden konnte. Ich war gefangen auf dem kalten Fliesenboden, klammerte mich an das Porzellan vor mir und reiherte mir das Leitungswasser aus der Seele, das ich schluckweise in mich reinzwängte. Und immer wieder wünschte ich mir, es gäbe eine Möglichkeit in dieser Situation, mein Leiden zu beenden.
Mein Leben zu beenden.

 

In den letzten zehn Jahren hatte ich zwischendurch das Gefühl der Lebensmüdigkeit. Man ist in seinen Gedanken gefangen, unglücklich, will nicht mehr ständig stark sein müssen und an sich arbeiten. Man ist müde, nicht vom Sport, von der Arbeit, sondern von der eigenen Existenz.
Immer wenn es mir so ergeht, merke ich den starken Unterschied zu meiner Situation damals im September 2012. Damals wollte ich wirklich nicht mehr leben. Ich hatte den Wunsch, zu sterben, ganz konkret. Die Lebensmüdigkeit fühlt sich eher nach dem Wunsch von Auflösen an, um dem Gewicht der Welt zu entgehen. Eine Flucht ins Nichts, aber der Gedanke an einen Suizid ist nicht übergriffig dabei. Konkrete Vorstellungen davon, wie das Ableben geschehen soll bleiben aus, der Kopf und das Herz sind zu müde dafür und sie bleiben mit dem Lebenswillen verbunden.


2012 siegte nicht mein Lebenswille sondern Entkräftung, Scham und die Angst davor, meiner Familie noch mehr Kummer zu bereiten. Ich bin dafür unendlich dankbar. Dankbar, dass ich irgendwann auf dem Badezimmerboden eingeschlafen bin, ohne die Kraft zu sammeln, meinen Wunsch in die Tat umzusetzen. Dankbar, dass mein Wesen irgendwo doch ganz tief unten, hinter all der Realität, die mich antreibt, eine kleine Romantikerin ist, die auf das Gute vertraut. Ich kann darauf vertrauen, dass mein Urvertrauen nicht einstürzt, es für mich irgendwo ein Ende von Trauer und Dunkelheit gibt.

 

Irgendwann damals, ich erinnere mich gar nicht genau wodurch, bin ich aufgewacht, auf dem Boden, verklebte Augen vom Weinen, ein trockener Hals und Muskelkater im Bauch. Aber die Übelkeit war weniger geworden, das flaue Gefühl im Magen war aushaltbar. Zitternd schleppte ich mich ins Wohnzimmer, legte mich auf die Couch. Das kalte Leder tat gut, kühlte mir die Stirn und schwappte Erinnerungsfetzen der letzten Stunden in den Kopf. Scheiße, ich wollte wirklich sterben. Tränen liefen meine Wangen hinab, sammelten sich am Kragen und durchnässten den klammen Stoff. Ich wollte wirklich sterben und hab fast gedacht, es wär mir egal, wenn Tommy das erleben muss. Scham und Selbsthass stürzten auf mich hinab, schlugen ihre Fänge in mein Herz. Völlig kraftlos schlief ich darüber ein. Als Tommy ins Wohnzimmer kam und ich mit ihm im gleichen Raum war, überkam mich die Dankbarkeit. 

Ich bin noch da und bin nicht allein.

Er brachte mir Tee und deckte mich zu, „Keine gute Nacht?“ fragte er besorgt. Ich schüttelte den Kopf, vergrub mein Gesicht in der Decke. „Scheißi. Vielleicht wird die nächste besser.“ Mehr brauchte es nicht. Scheißi, aber vielleicht wird es besser. Ja. Verfickte Scheißi. Aber ich bin noch da. Ich bleib hier. Und vielleicht wird es besser.

 

Es wurde besser.

 

Ich mag vielleicht nochmal lebensmüde werden in meinem Leben, werde sicherlich noch einige Male die Schwere aushalten müssen, die depressive Episoden mit sich bringen. Aber ich bin mir sehr sicher, dass ich nicht mehr anzweifeln werde, dass ich einen Platz auf diese Planeten habe. Dass ich mein Bestes aus meiner Existenz machen kann und dass es sich immerimmerimmer lohnt, durchzuhalten. Irgendwie, mit irgendwas, durch irgendwen kann es besser werden und das warme Licht wird die schwarzen Schatten auf dem Herz verdrängen. Ich weiß das. Und dafür bin ich vor allem mir selber dankbar. Weil ich durchgehalten habe. Im alles entscheidenden Kampf mit dem Drachen, bevor er mir überhaupt sein hässliches Echsengesicht in voller Gänze gezeigt hat, da habe ich gewonnen. Und wenns nur durch Einschlafen war und das Erwachen mit der leisen Hoffnung, dass es vielleicht besser wird. Das reicht. Und wenn du zweifelst, dann glaube mir, solange habe ich die Hoffnung für uns beide. Es ist schön, dass es dich gibt und eine Menge Menschen sind froh über deine Existenz!

 

 

Wenn du suizidale Gedanken hast, wende dich bitte umgehend an eine Hilfestelle:

TelefonSeelsorge:

0800 1110111

https://www.telefonseelsorge.de/

 

Liste von Beratungsstellen:

 

https://www.suizidprophylaxe.de/hilfsangebote/hilfsangebote/

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